Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
äußerte Alejandro, während er durch die Zweige spähte. »Aber die Stille macht mich besorgt.«
»Verglichen mit dem Lärm der Schlacht ist sie ein Segen«, erwiderte Karle. Er schickte sich an aufzustehen.
Alejandro faßte ihn am Handgelenk. »Wartet!«
»Was ist mit Jean? Sollte man sich nicht um ihn kümmern?« protestierte Karle. Er versuchte, seinen Arm wegzuziehen.
Der Ältere packte ihn fester. »Wenn er an seinen Verwundungen sterben sollte, ist er jetzt tot. Seid geduldig. Schwierigkeiten sind nicht immer gleich erkennbar. Was das Auge nicht sieht, kann das Innere manchmal erspüren. Und im Augenblick mißtraut mein Herz dem Frieden, den meine Augen sehen.«
Widerstrebend setzte Karle sich wieder hin. Er starrte ein paar Augenblicke durch die Zweige. »Mir teilen weder mein Herz noch meine Augen irgend etwas mit.«
Alejandro brummte zynisch, während er erneut Ausschau hielt. Dann drehte er sich wieder zu Karle um: »Euer Herz ist jung. Wenn es dasselbe Alter hat wie meines, werdet Ihr wissen, daß es jeden Augenblick gebrochen werden kann. Einst hatte ich einen lieben Gefährten, der ein geübter Krieger war. Er hat mir viele Male bewiesen, daß solch gelassene Ruhe, wie sie jetzt vor uns liegt, binnen eines Augenblicks zerstört werden kann.«
Sie blieben, wo sie waren, und beobachteten die Hütte schweigend mehrere Minuten lang.
»Da ist niemand«, drängte Karle schließlich. »Laßt uns nach dem Verwundeten sehen. Ich werde ihn zu seiner Familie zurückbringen, und dann muß ich mich um diejenigen kümmern, die wir zurückgelassen haben.«
Wieder gebot Alejandro seinem jugendlichen Ungestüm Einhalt.
»Wartet hier! Ich werde vorangehen, um nachzusehen, ob keine ungebetenen Besucher da sind. Denn im Augenblick werdet Ihr vielleicht mehr gejagt als ich.«
Langsam erhob er sich. »Ich mache mich bemerkbar, wenn es ungefährlich ist, Euch zu zeigen.«
Ein kurzes Überlegen folgte. »Und wenn nicht?« fragte Karle.
»Dann werde ich einen Schrei ausstoßen wie ein Raubvogel.« Er nickte Kate zu. »Und Ihr werdet die Hand meiner Tochter nehmen und davonfliegen. Sie weiß, wo sie mich wiederfindet.« Lächelnd berührte er mit väterlicher Zuneigung ihre Wange. »Alles wird gut werden, das habe ich im Gefühl.« Jetzt stand er aufrecht und wollte den Hain verlassen, hielt jedoch im Schutz der Bäume noch einmal inne.
»Aber …« setzte er zögernd hinzu. Er griff in seine Tasche und nahm einen kleinen Beutel heraus, den er in Kates Hand legte. Münzen klimperten darin, und Kate steckte den Beutel mit einem kurzen Nicken in die Tasche ihres Rocks.
Alejandro sah seine Ziehtochter lange an. Dann wandte er sich wieder Karle zu und sagte: »Nehmt dieses mit auf den Weg. Wenn es Gott gefällt, uns zu trennen, werden wir uns wiedersehen. Und dann ist es besser für Euch, wenn meine Tochter sich nicht zu beklagen hat!«
An jedem Ort, an dem sie sich in den Jahren seit England versteckt hatten, schienen ihnen Fenster Fallen zu stellen. Oft fragten sie sich als erstes, wenn sie eine Behausung ins Auge faßten, die verlassen zu sein schien: Gibt es zu viele Fenster, um hineinzuschauen? Der jüdische Arzt und seine adoptierte englische Tochter waren ungeheuer geschickt, die Augen der Welt mittels Pergament, Stoff oder manchmal Holzbrettern auszusperren. Er hatte Kate im kargen Licht von Fackeln und Kerzen unterrichtet, getröstet und aufgezogen. Ihre Sehnsucht nach Tageslicht verließ sie nie und war manchmal fast verzweifelt, aber so abgeschirmt konnten sie sich im Dunkeln nahezu ungehindert bewegen.
Jetzt aber war Alejandro derjenige, der in die Hütte schauen, sein eigenes Haus ausspionieren wollte, um festzustellen, was möglicherweise während ihrer Abwesenheit geschehen war. Es gab nur ein einziges Fenster, und das war so sorgfältig verhüllt wie alle anderen ihrer jeweiligen Aufenthalte. Daher konnte er also gar nichts sehen. Alejandro verfluchte seine eigene Umsicht und wünschte sich, dieses eine Mal wäre er etwas nachlässiger vorgegangen.
Er schlüpfte zwischen den Bäumen durch und in den Stall, wo er sein eigenwilliges Pferd wiederfand, das selbstzufrieden an dem Haufen langer Gräser knabberte, den man am Vortag vor ihm aufgeschüttet hatte. Ein rascher Blick in den Wassertrog verriet Alejandro, daß er nachgefüllt werden mußte, aber er konnte mit einem Eimer zum Bach gehen, wenn er alles überprüft hatte. Den riesigen Hengst begrüßte er mit einem sanften Streicheln der Nüstern.
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