Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
Erinnerung eingebrannt. Sie und Hunderte von anderen hatten um Einlaß gebettelt und gefleht; doch sie wurden von den schußbereiten Waffen der Polizisten, die dieselbe Angst schüttelte wie die Menge vor ihnen, in Schach gehalten. Viele Menschen auf beiden Seiten hatten Angehörige in diesem Krankenhaus – oder Freunde oder Kollegen, die plötzlich den Killer-Bakterien zum Opfer gefallen waren. MR SAM hatte alles verändert, überall und fast für jedermann; mittlerweile hatten sich die Umstände zwar gebessert und das Leben war normaler geworden, aber nie wieder würde es wie früher sein.
Sie stand an der Tür zum Zimmer des Prives-Jungen und wartete darauf, daß drinnen etwas geschah. Dabei rieb sie gedankenverloren an der Injektionsstelle in ihrer Handfläche, während Erinnerungen an jene dunklen Tage von neuem in ihr aufstiegen. Ihre Sinne spielten ihr einen psychologischen Streich, und alles wirkte wieder ganz real: der kalte Maschendraht des Metallzaunes, der feuchte, metallische Geruch, den er an ihren Fingern hinterließ, die blinkenden Lichter der Ambulanzwagen, die hintereinander langsam die State Route 9 zum Hospital rollten und das provisorische Krematorium ansteuerten, das noch nicht abgerissen worden war. An Regentagen glaubte Janie manchmal, den Geruch der Leichen in der Luft zu spüren, die man verbrannt hatte, damit die Geißel, die sie vernichtet hatte, sich nicht ausbreitete. Aber es war doch passiert, und an manchen Orten existierte sie noch immer. Sie würde niemals ganz unter Kontrolle gebracht werden. Höchstens unterdrückt.
Eine von diesen Leichen war ihr einziges Kind, das nicht zurückkehren würde, wie lange Janie auch warten mochte.
Sie ließ noch einige Sekunden vergehen und klopfte dann leise. Die Mutter drehte sich nach ihr um.
Zögernd sagte Janie: »Mrs. Prives?«
Ein hoffnungsvolles Nicken.
»Ich bin Janie Crowe von der New Alchemy Foundation. Wir, eh …«
Mrs. Prives, eine Frau mit leicht birnenförmiger Figur, ergrauendem Haar und Brille mit dicken Zweistärkengläsern, stand in Windeseile auf und strich sich mit einer nervösen Geste den Rock glatt. »Oh, ja«, sagte sie mit schwacher Stimme.
Janie blieb auf der Schwelle stehen und wußte nicht, was sie tun sollte. Mrs. Prives winkte mit der Hand. »Bitte. Kommen Sie herein.«
»Ich möchte nicht stören …«
Ein angedeutetes Lächeln erschien auf dem Gesicht der Frau.
»Ich habe doch ein Kind. Da ist man allerhand gewöhnt.« Sie wandte sich wieder ihrem Sohn zu. »Abe ist nicht – wach, ich glaube nicht – also werden Sie ihn ohnehin nicht stören.«
Janie erwiderte das Lächeln, als sie an das Bett trat. »Man weiß nie. Hoffentlich störe ich ihn. Und ich hoffe auch, daß wir bald wissen werden, ob er uns bemerkt oder nicht.«
Mrs. Prives sah ihren Sohn an und dann wieder Janie. »Das wäre sicher ein Fortschritt. Haben Sie irgendwelche neuen – ich meine, gibt es Neuigkeiten?«
Janie wußte, was sie fragen wollte. Es machte sie traurig, daß Leute oft meinten, sich entschuldigen zu müssen, wenn sie nach Informationen hungerten. Wie kam es, daß diese Scheu sich so schrecklich weit ausgebreitet hatte, so jämmerlich allgemein geworden war? Oft empfand sie sie selbst auch voller Grimm, weil das, was diese Scheu vor Fragen auslöste, nur Angst sein konnte.
»Es würde mich freuen, wenn wir ihn in das Patientenpflegezentrum der Stiftung aufnehmen könnten. Ich will aber offen zu Ihnen sein, denn da bestehen einige Schwierigkeiten. Es gibt finanzielle Probleme, die noch nicht geklärt sind.«
Bitterkeit machte sich auf dem Gesicht der Mutter bemerkbar.
»Wie immer!«
»Auf keinen Fall möchte ich Ihnen unbegründete Hoffnung machen. Aber wenn Ihnen das ein Trost ist, Sie sind nicht allein – wir versuchen, noch einen anderen Jungen aufzunehmen, der ähnlich betroffen ist wie Abraham …«
»Inwiefern ähnlich?« unterbrach Mrs. Prives sie.
»Die gleiche Art von Knochenzersplitterung.«
»Die Leute haben mir gesagt, daß solche Brüche selten sind.«
»Nun ja, das glauben wir alle …«
»Glauben?«
Janie zögerte, da sie ihre Antwort so klar und so wenig entmutigend wie möglich formulieren wollte. »Genaugenommen ist darüber noch nicht viel nachgedacht worden. Daran sehen Sie, wie selten sie sind. Im Moment geht es um die Genehmigung zu einer landesweiten Befragung, ob es noch weitere Fälle gibt.«
»Und die ist schwer zu bekommen?«
»Leider oder zum Glück, je nach Standpunkt, ja,
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