Beobachter
Grund verschwindet. Schon gar nicht eine Mutter. Sie musste zurücklassen, was ihr mit Sicherheit das Liebste auf der Welt ist, nämlich dich. Das tut eine Frau nur, wenn sie unter sehr großem Druck steht.«
»Ja«, sagte Finley.
»Dein Vater hat der Polizei gesagt, deine Mutter habe immer unter Depressionen gelitten. Weißt du, was Depressionen sind?«
»Man ist dann immer sehr traurig.«
»Genau. Könnte man das über deine Mutter sagen? Dass sie immer sehr traurig ist?«
»Ja«, sagte Finley ernst.
John versuchte es von einer anderen Seite. »Bei depressiven Menschen ist der Grund für ihre Traurigkeit oft nicht zu erkennen. Sie selbst fühlen unter Umständen schon einen Grund, aber für uns von außen scheint es keinen zu geben. So als sei diese Traurigkeit einfach da, wie ein Schnupfen oder eine Halsentzündung. Eine Art Krankheit. Auch dann, wenn im Leben dieses Menschen eigentlich alles in Ordnung ist und man sich fragt: Warum bloß ist er oder sie immer so traurig? Ist das so bei deiner Mutter?«
Ein Ausdruck der Unsicherheit huschte über Finleys Gesicht.
»Sie meinen, dass man nicht weiß, warum sie traurig ist?«
»Ja, das meine ich.«
»So ist es eigentlich nicht«, sagte Finley leise. Er sah John jetzt nicht mehr an.
»Du kanntest also immer den Grund für ihre Traurigkeit?«, insistierte John.
Finley nickte.
»Und du weißt auch, warum sie weggegangen ist?«
Von Finley kam keine Reaktion. Er betrachtete eindringlich seine Stiefel. John konnte erkennen, dass die Adern unter der sehr weißen Haut an den Schläfen leicht zuckten.
»Willst du es mir sagen?«
Finley schüttelte den Kopf.
»Aber vielleicht würde es mir helfen, sie zu finden.«
Finleys Augen irrten nun umher. Er schien auf irgendeine Hilfe zu hoffen, von der er selbst nicht wusste, wie sie aussehen sollte.
»Gab es oft Streit zwischen deinen Eltern?«, fragte John.
Finley sah aus, als wollte er am liebsten weglaufen. John begriff, dass er den Jungen kaum noch eine Minute würde halten können.
Ihm war ein Gedanke gekommen, der Schatten einer Möglichkeit, wie er Liza würde finden können, und dafür brauchte er eine Information, die er nicht bekommen würde, wenn er weiter in den Jungen drang.
Abrupt wechselte er das Thema. »Machst du eigentlich noch etwas außerhalb der Schule?«, fragte er leichthin. »Nachmittags, meine ich. Hast du ein Hobby? Rugby? Ein Instrument vielleicht? Irgendetwas?«
Finley schien überrascht und auch erleichtert. »Am Mittwoch spiele ich Handball. Und am Donnerstag habe ich Klavierstunde.«
»Du spielst Handball? Das finde ich gut. In meiner Freizeit unterrichte ich selbst Kinder im Handball.«
»Echt?« Finley sah ihn bewundernd an.
»Ja. Echt. Bist du gut?«
»Es geht.«
»Ihr spielt hier in der Schule?«
»Ja.«
»Und der Klavierunterricht … findet der auch hier statt?«
»Nein. Bei einer Privatlehrerin. In der Nähe der Hampstead-Tube-Station.«
»Verstehe. Ich nehme an, dass dich früher deine Mutter dorthin gebracht hat, stimmt’s? Und jetzt gehst du allein?«
»Ja. Mein Vater hat wenig Zeit.«
»Alles klar. Finley – danke, dass du mit mir gesprochen hast. Ich hoffe, du erreichst deinen Bus noch.«
»Es ist noch Zeit«, sagte Finley. Er wandte sich zum Gehen.
»Auf Wiedersehen«, murmelte er unsicher.
»Auf Wiedersehen«, sagte John. Er schaute dem Jungen nach. Beim Laufen zog er die Schultern ein wenig nach vorne. Er sah aus wie jemand, der eine unsichtbare Last trägt.
Keinesfalls ein glückliches Kind. Ein gut versorgtes Kind zweifellos, gefördert und unterstützt, und daheim wartete wahrscheinlich ein riesiges, gut bestücktes Spielzimmer auf ihn. Aber er war ein trauriges Kind, das Verlassenheit ausstrahlte.
Es war ein winziger Strohhalm, aber es war die einzige Chance, die John sah: Wenn sich Liza Stanford noch irgendwo in der Nähe aufhielt, würde sie versuchen, wenigstens gelegentlich zu überprüfen, wie es ihrem Sohn ging. Oder sie würde ihn auch einfach nur sehen wollen, um selber die Trennung von ihm auf irgendeine Weise durchhalten zu können. Er hegte die kleine Hoffnung, dass Liza gelegentlich Orte aufsuchen würde, von denen sie wusste, dass Finley dort zu bestimmten Zeiten aufkreuzte, dass sie sich irgendwo dort herumtrieb, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Wenn er Glück hatte, gelang es ihm, sie zu erkennen. Sie entweder ansprechen oder ihr folgen zu können.
Es war eine Chance, mehr nicht. Und es bedeutete, dass er sich abermals ganze
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