Beobachter
Brust mit beiden Händen zusammenhielt. Christy trat auf sie zu.
»Ja. Ich müsste dringend mit einem von ihnen sprechen – mit Dr. Stanford oder mit seiner Frau. Aber es scheint niemand da zu sein.«
Die Frau sprach mit gesenkter Stimme. »Mrs. Stanford hat seit vielen Wochen niemand mehr gesehen.«
»Ach nein?« Christy tat überrascht. Vielleicht gewann sie ein paar Informationen. Sie behielt den Umstand, dass sie Polizistin war, für sich, um ihr Gegenüber nicht zu verschrecken. »Seit Wochen, sagen Sie?«
»Seit … warten Sie … Mitte November, würde ich meinen. Da habe ich sie zuletzt gesehen. Sie hat ihren Sohn von der Schule abgeholt. Sie verließ nicht oft das Haus, wissen Sie, aber sie fuhr den Sohn mal dahin und dorthin. Ich habe das von meinem Wohnzimmer aus beobachtet.«
»Vielleicht ist Mrs. Stanford krank und liegt im Bett?«, mutmaßte Christy rasch.
»Ich bitte Sie – krank! Zwei Monate lang? Und ohne dass ein Mal ein Arzt auftaucht und sie besucht? Nein, das glaube ich nicht. Das glaubt auch hier von den Nachbarn niemand.«
»Was glauben Sie denn? Und was glauben die Nachbarn?«, fragte Christy.
Die Frau sprach nun noch etwas leiser. »Das ist ein Drama da drüben!«, zischte sie.
»Tatsächlich?«
»Sie sagen nicht, dass Sie das von mir haben, ja? Ich habe nämlich Angst vor ihm. Alle haben sie hier Angst vor ihm!«
»Sie sprechen von Dr. Stanford?«
»Dem würden Sie ja nichts anmerken. Sehr korrekt, sehr höflich. Sehr ruhig. Man könnte sich im Grunde absolut nicht über ihn beschweren, aber …«
»Ja?«
»Als Nachbar sieht und beobachtet man manches. Niemand hier ist neugierig, aber man kann ja auch nicht immer wegschauen, oder?«
»Natürlich nicht«, stimmte Christy zu.
»Also, Liza Stanford, die war manchmal grauenhaft zugerichtet. Sie trug ja praktisch immer eine riesige Sonnenbrille, auch bei Regen und Dunkelheit, aber ich habe sie manchmal auch gesehen, wenn sie ohne Brille rasch ans Tor kam, um die Post aus dem Briefkasten zu holen. Die hatte oft ein ganz zerschlagenes Gesicht. Zugeschwollene Augen, geplatzte Lippe, blaue Flecken. Aber auch Blutergüsse am Hals oder eine blutverschmierte Nase. Sie sah aus wie nach einem Boxkampf. Und zwar einem, den sie verloren hat.«
Christy hielt den Atem an. »Und Sie meinen …?«
»Ich will über niemanden böse Gerüchte in die Welt setzen«, sagte die Frau. »Aber man kann schließlich eins und eins zusammenzählen, oder? Wer sollte wohl diese Frau regelmäßig so furchtbar zurichten? Es wohnen nur drei Menschen in dieser unheimlichen, dunklen Villa dort drüben: Liza, ihr Sohn und ihr Mann.«
»Ich verstehe«, sagte Christy. »Es sieht tatsächlich so aus, als ob … Aber ich frage mich, weshalb sie dann nie zur Polizei gegangen ist.«
Sie stellte diese Frage mit absichtlich vorgeschobener Naivität. Sie war schon lange in ihrem Job. Sie wusste, dass es tausend Gründe gab, weshalb Frauen in der Situation von Liza Stanford nicht zur Polizei gingen. Oder zu einer Beratungsstelle. Es war sogar so, dass die wenigsten das taten.
»Er hat viel Einfluss, ihr Mann«, sagte die Frau. »Viel Geld, großes Ansehen. Duzt sich mit den meisten wichtigen Politikern hier im Land. Kennt Gott und die Welt. Ist wahrscheinlich auch ein enger Kumpel vom Polizeichef, zumindest würde mich das nicht wundern. Vielleicht sieht Liza ohnehin keine Chance für sich. Und fürchtet, dass sie damit alles noch schlimmer macht.«
»Als Sie sie zuletzt gesehen haben«, sagte Christy, »war sie da auch verletzt?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Zumindest konnte ich es nicht erkennen. Diese Sonnenbrille … die bedeckte ja fast das ganze Gesicht.«
Die riesige Sonnenbrille von Gucci … Christy musste an ihr Gespräch mit der Arzthelferin aus Anne Westleys Praxis denken. Die dunkle Brille, die Liza offenbar auch in geschlossenen Räumen aufbehielt, hatte sie so besonders unnahbar und arrogant erscheinen lassen und ihr die Abneigung anderer Menschen eingebracht. Dabei hatte sie nicht anders gekonnt. An den meisten Tagen ihrer Ehe mit dem hoch angesehenen Dr. Stanford hatte sie ihr Gesicht wahrscheinlich so gut es ging verstecken müssen.
»Und Sie sagen, alle hier haben Angst vor Dr. Stanford?«, vergewisserte sie sich.
Die Frau nickte. »Ist ja kein Wunder. Wirklich, Sie hätten die Frau manchmal sehen müssen. Ein Mann, der so etwas tut, der kann nicht ganz normal sein. Der ist gefährlich. Ich meine, das waren nicht einfach ein paar Ohrfeigen,
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