Beobachter
sie. Es klang liebevoll. Gillian lächelte zurück.
Tara und Gillian hatten einander in einem Französischkurs in London kennengelernt, an dem beide fünf Jahre zuvor teilgenommen hatten. Gillian hatte damals ihr Schulfranzösisch aufpolieren wollen und sich daher in der Sprachschule angemeldet. Tara hatte sich, nachdem sie etliche Jahre als Rechtsanwältin in Manchester gearbeitet hatte, kurz zuvor bei der Londoner Staatsanwaltschaft beworben und war eingestellt worden. Ausgerechnet in dem ersten Fall, der dann auf ihrem Schreibtisch gelandet war, hätte es ihr geholfen, etwas besser Französisch zu sprechen, als sie es tatsächlich tat. Es war typisch für sie, dass sie nach dieser Erfahrung sofort einen entsprechenden Kurs belegte. Die beiden Frauen hatten nebeneinander gesessen und einander auf Anhieb gemocht. Seitdem waren sie befreundet.
»Es kann aber nicht sein, dass Tom … Sei mir nicht böse, ja? … Es kann nicht sein, dass er ein Verhältnis hat?«
»Tom? Nie im Leben«, erwiderte Gillian entsetzt, und genau in diesem Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Das Telefon klingelte, und die im Küchenfenster befestigte weihnachtliche Lichterkette, die an eine Zeitschaltuhr gekoppelt war, sprang an.
»Ach, du liebe Güte«, sagte Tara, die Weihnachten ziemlich schrecklich fand, grinsend.
»Entschuldige«, sagte Gillian und ging ans Telefon, das im Gang stand. Sie meldete sich. »Gillian Ward.«
»John Burton. Störe ich?«
Sie fragte sich, weshalb sie beim Klang seiner Stimme ein seltsames Kribbeln im Bauch bekam. Irgendetwas zog sich in ihrem Inneren zusammen, auf eine Art, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Unvermittelt fielen ihr die Worte der anderen Frau auf der Weihnachtsfeier ein: Ich muss immer aufpassen, keine unanständigen Phantasien zu entwickeln, wenn ich ihn sehe …
Wieso denke ich gerade das jetzt?, fragte sich Gillian im nächsten Moment.
»Nein«, sagte sie, »nein, Sie stören überhaupt nicht.«
»Ich wollte mich erkundigen, ob Sie am Freitag gut nach Hause gekommen sind.«
»Oh, danke, ja. Ja, das bin ich.« Sie wartete. Sie fand, dass ihre Stimme unnatürlich klang. Und sie war sich bewusst, dass Tara genau zuhörte.
»Und dann«, fuhr Burton fort, »wollte ich Ihnen sagen, dass ich am Mittwochabend wieder im Halfway House bin. Falls Sie Lust haben, mich dort zu treffen, würde ich mich freuen.«
Sie war überrascht. Am Freitag hatte sie zu viel getrunken und einen beschämenden Versuch unternommen, mit ihm zu flirten. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass sie ihn verärgert hatte, aber über das Wochenende war sie zu dem beruhigenden Schluss gekommen, dass sie nie wieder Näheres mit ihm zu tun haben würde. Obwohl Becky von ihm trainiert wurde. Bislang hatte sie jedes persönliche Gespräch vermieden, das sich beim Bringen oder Abholen ihrer Tochter hätte ergeben können, und das war nie ein Problem gewesen, da Burton derart von den anderen Müttern belagert wurde, dass man ohnehin kaum hätte zu ihm vordringen können. Und so würde es auch in Zukunft sein. Der Freitag war ein Ausrutscher gewesen, der in Vergessenheit geraten würde. Sie hatte geheult, sie hatte zu viel getrunken, sie hatte mit ihm geflirtet. Es hing alles miteinander zusammen. Burton würde das sicher einzuordnen wissen. Und wenn nicht, konnte es ihr auch egal sein.
»Am Mittwoch«, wiederholte sie.
»Ja. Ich bin gegen neunzehn Uhr dort. Nach dem Training der Jugendgruppe.«
Becky gehörte gerade noch zur Kindergruppe. Sie war mittwochs nicht dabei.
»Ich … bin nicht sicher …«
»Sie können es sich überlegen«, sagte Burton, »ich gehe sowieso hin, und Sie sind völlig frei, sich bis zur letzten Minute zu entscheiden.«
Ihr fiel nur eine Frage ein. »Weshalb?«
»Weshalb was?«
Es war schwierig, in Taras Gegenwart zu sprechen, aber Gillian mochte auch nicht länger in abgehackten Worten herumstottern. John Burton musste denken, dass sie nicht in der Lage war, auch nur einen vollständigen Satz zu bilden. »Weshalb wollen Sie mich treffen?«
»Ich finde Sie interessant«, sagte Burton.
Sie schwieg. Wie, verdammt noch mal, ging man mit einer solchen Situation um?
»Ich überlege es mir«, sagte sie schließlich.
»Okay«, stimmte Burton zu. Sie hatte den Eindruck, dass er ziemlich sicher war, dass sie kommen würde.
»Also, bis dann vielleicht«, sagte sie, und er erwiderte: »Bis dann!« und legte gleich darauf auf. Das Vielleicht hatte er weggelassen.
Du bist ganz
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