Beobachter
trotzige, grimmige Ausdruck, den es so oft in der letzten Zeit trug, völlig abgefallen war.
Wie sehr ich sie liebe, dachte sie.
Ihre innere Unruhe wurde dennoch nicht weniger.
Sie brachte die schlaftrunkene Becky schließlich ins Bett, deckte sie sorgfältig zu, was sie sich tatsächlich gefallen ließ, und ging dann wieder ins Wohnzimmer hinunter. Nach zwei Gläsern Wein fühlte sie sich ein wenig entspannter. Da sie selten Alkohol zu sich nahm, reagierte sie schon auf geringe Mengen sehr intensiv, und zwei Gläser Wein kamen für sie fast einem Besäufnis gleich.
Der Kassenzettel, auf den John seine Handynummer geschrieben hatte, steckte in ihrer Jeanstasche. Sie zog ihn hinaus, nahm das tragbare Telefon von der Ladestation im Flur und ging damit ins Wohnzimmer zurück.
Ein Anruf ist nichts Weltbewegendes, beruhigte sie sich.
Er meldete sich beim dritten Klingeln. Im Hintergrund konnte Gillian Stimmen hören, Reden, Lachen und das Klirren von Gläsern.
»Ich bin es. Gillian.«
»Lieber Gott«, sagte John, »ich hatte schon Angst, du meldest dich nie wieder.«
Er schien tatsächlich auf ihren Anruf gewartet zu haben.
»Bei unserem letzten Treffen«, sagte Gillian, »habe ich, glaube ich, ein wenig überreagiert. Ich wollte … das nicht so stehen lassen.«
»In welcher Hinsicht überreagiert?«
»Ich hätte nicht gleich aufstehen und gehen sollen. Ich fürchte, die Situation hat mich nervlich einfach überfordert.«
Das Gelächter im Hintergrund schwoll an.
»Wo bist du?«, fragte Gillian.
»Im Halfway House . Wir hatten heute ein Turnier im Club, und danach bin ich noch hierher gegangen. Kannst du kommen? Ich sitze mutterseelenallein an einem Tisch und tröste mich mit etwas zu viel Whisky.«
Überrascht registrierte Gillian, wie sehr es sie freute und erleichterte, dies zu hören: dass er allein dort war.
»Ich kann nicht weg. Nicht einfach so heute Abend.«
»Wann kannst du?«, fragte John.
Sie lachte. »Woher weißt du, dass ich das will? Dich treffen?«
Er blieb ernst. »Du sagtest gerade: Nicht einfach so heute Abend. Das klang für mich so, als sei es eine Frage des Zeitpunkts. Nicht ein generelles Nein .«
»Du hast recht.« Sie überlegte. »Ich möchte einfach nur reden. Ich war erschrocken, als du mir gesagt hast, weshalb du aus deinem Beruf ausscheiden musstest. Ich wüsste gerne mehr darüber.«
»Sag einfach wann.«
»Am nächsten Donnerstag ist Becky zu einem Geburtstag mit Übernachtung eingeladen. Mein Mann hat abends eine Versammlung in seinem Tennisclub. Ich bin frei.«
»Nächsten Donnerstag? Es ist fast eine Woche bis dahin.«
»Ich weiß.« Jede Menge Gelegenheit, es mir anders zu überlegen.
»Take it or leave it«, sagte John. »Das ist vermutlich die einzige Wahl, die ich dabei habe. In Ordnung. Nächsten Donnerstag. Kommst du zu mir?«
»Zu dir nach Hause?«
»Warum nicht?«
Sie wollte nicht albern erscheinen. Oder verklemmt und spießig. »Hm … gut, in Ordnung. Du wohnst in London?«
Er diktierte ihr eine Adresse in Paddington, und sie kritzelte sie zu seiner Nummer auf den Kassenzettel.
»Also, bis dann«, sagte sie.
»Ich freue mich«, sagte John.
DONNERSTAG, 17. DEZEMBER
1
Luke Palm war achtunddreißig Jahre alt, arbeitete seit acht Jahren als selbstständiger Makler und hatte es sich zu einem Grundsatz gemacht, seinen Kunden nie zu sehr auf die Pelle zu rücken. Er kannte natürlich das Klischee vom schmierigen, aufdringlichen Makler, der die Menschen so lange bedrängt und beschwatzt, bis sie Objekte kaufen, die sie ursprünglich gar nicht wollten, und deren Fehler und Unzulänglichkeiten sie unter der Beredsamkeit eines skrupellosen Vermittlers glatt übersehen mussten. So jemand hatte er nie sein, sich deutlich dagegen abgrenzen wollen. Der Erfolg gab ihm recht. Er genoss den Ruf großer Anständigkeit und Seriosität. Die Menschen vertrauten sich ihm gern an.
Auch Anne Westley war zu ihm gekommen, weil er ihr von einer Bekannten empfohlen worden war. Eine sehr sympathische, kluge ältere Frau. Er hatte sich auf Anhieb gut mit ihr verstanden. Außerdem war eine Klientin wie sie natürlich ein Glücksfall: Sie wollte nicht nur ein Haus verkaufen, sie suchte zudem nach einer Eigentumswohnung für sich. Er würde doppelt an ihr verdienen. Es war deshalb selbstverständlich, dass er sich besonders große Mühe gab.
Er hatte sie die Woche über mehrfach zu erreichen versucht, war aber immer nur an ihren Anrufbeantworter geraten. Er hatte dringend
Weitere Kostenlose Bücher