Beobachter
sie irgendwo fest. Es war der erste richtige, anhaltende Schneefall dieses Winters, und da bricht ja jedes Mal der Verkehr zusammen.
Becky klingelte, aber natürlich tat sich nichts. Sie klingelte wieder. Sie trat zurück, schaute an der Fassade des Hauses hinauf. Klingelte erneut. Hämmerte schließlich mit den Fäusten an die Tür. Und brach in Tränen aus.
In jener eigentümlichen Stille, in der die Welt bei Schneefall versinkt, konnte ich ihr Schluchzen hören. Es brach mir fast das Herz.
Ich überquerte die Straße, blieb am Gartentor stehen und rief sie. »Becky!«
Sie fuhr herum. Ich stand genau unter einer Straßenlaterne, sie konnte mich unschwer erkennen. Es war schön zu sehen, wie Angst und Misstrauen, die sich jäh in ihren Zügen ausgebreitet hatten, verschwanden. Sie erkannte mich. Der Mann, der in derselben Straße wohnt.
»Hallo«, sagte sie. Ihre Stimme klang tränenschwer.
»Niemand daheim?«, fragte ich, obwohl ich es ja wusste.
»Nein. Niemand. Und ich habe keinen Schlüssel dabei.«
»Wissen deine Eltern, dass du jetzt nach Hause kommen wolltest?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte bei meiner Freundin übernachten, aber wir haben uns total zerstritten, und deshalb bin ich nach Hause gegangen.«
Das war zumindest eine beruhigende Erklärung für Gillians Verhalten: Sie wähnte ihre Tochter die ganze Nacht über bei der Freundin. Sie konnte nicht ahnen, dass sie nach Hause kommen würde.
»Weißt du was?«, sagte ich. »Ich denke, dass du krank wirst, wenn du hier noch lange in der Kälte herumstehst. Entweder ich bringe dich zu deiner Freundin zurück …«
Sie schrie auf. »Nein!«
»… oder du kommst einfach mit zu mir. Später begleite ich dich dann wieder nach Hause. Was meinst du?«
Sie war unsicher, natürlich, ihr war eingeschärft worden, nicht mit Fremden zu gehen, und letztlich war ich ein Fremder für sie. Aber einer, den sie vom Sehen kannte, den sie und ihre Eltern grüßten. Das gab wohl den Ausschlag, dass sie doch mitkam. Außerdem hatte sie keine Wahl. Da sie sich mit der Freundin offenbar gründlich überworfen hatte, blieb ihr nur ich.
Sie bekam Orangensaft bei uns und selbstgebackene Kekse, und sie fand uns, glaube ich, recht nett. Sie erzählte von der Schule und von der Party, auf der sie gewesen war, und dass sie mit ihrer ehemals besten Freundin nie wieder ein Wort wechseln würde. Es war ganz entzückend. Sie freut sich auf Weihnachten und auf ihre Großeltern, zu denen sie immer am 26. Dezember fährt und dann bis Anfang Januar bleibt. Es sind die Eltern ihrer Mutter, und sie leben in Norwich. Gillian stammt also aus East Anglia, und das passt zu ihr. Das Land dort ist sehr weit und sehr grün. Ich kann mir Gillian zwischen den Seen und Flüssen der Norfolk Broads vorstellen, ich sehe sie inmitten der Lavendelfelder, und ich ahne, dass der Sommer seltsam bleiche, silbrige Strähnen in ihre langen rotblonden Haare färbt. Ein Tag am Strand, und ihre Haut ist voller Sommersprossen, und der Meereswind macht ihre Haare noch unbändiger und gelockter.
Millie sagte dann, ich solle den Eltern gleich auf den Anrufbeantworter sprechen, was wahrscheinlich mal eine wirklich gute Idee von ihr war. Trotzdem kam es später zu dem unsäglichen Auftritt des Ehepaares Ward hier bei uns. Er benahm sich widerlich, und sie … Ja, von ihr bin ich tief enttäuscht. Irgendwie hatte ich auch gedacht, sie käme vielleicht noch mal vorbei. Wenn nicht am nächsten Tag oder am Wochenende, dann zumindest heute. Um sich noch mal zu bedanken oder um sich für das Verhalten ihres Mannes zu entschuldigen. Aber nichts. Sie kennt mich mal wieder nicht. Deshalb sagte ich eingangs, sie ist wie die Brown. Von der habe ich auch nichts mehr gehört. Sie zieht wieder fröhlich mit ihrem Hund herum, und ich bin … nicht existent.
Frauen nehmen mich nicht wahr. Egal, was ich für sie tue. Ich könnte unsichtbar sein. Oder einen schlechten Geruch verströmen, der mich mit einer Bannmeile umgibt. Bei Gillian dachte ich, sie sei vielleicht anders. Aber im Grunde behandelt auch sie mich wie Dreck.
Ich darf den Hass nicht zu groß werden lassen. Hass vernichtet.
Auch den, der ihn empfindet.
DONNERSTAG, 24. DEZEMBER
1
Millie blickte aus dem Fenster der Gästetoilette im Erdgeschoss, das zur Straße hinausführte. Sie sah Samson, der gerade das Haus verlassen hatte. Er hatte gesagt, er wolle in die Stadt, um letzte Geschenke zu besorgen, aber er werde nicht das Auto nehmen, da er
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