Beobachter
hergeholt, wie es zunächst den Anschein hatte. Sie entsprangen dem Bild, das er abgab, der Empfindung, die er auslöste: sprunghaft zu sein, ungebunden, vielleicht sogar unfähig zur Bindung. Nicht greifbar, nicht berechenbar.
Auf keinen Fall, dachte sie, darf man sich als Frau gefühlsmäßig auf diesen Mann einlassen. Jedenfalls nicht, wenn man nicht ausgesprochen schmerzhaft am Ende auf die Nase fallen möchte.
Um zwanzig nach sechs wusste sie, dass sie dringend eine Entscheidung treffen musste. Sie brauchte mindestens eine Dreiviertelstunde für den Heimweg. Tom verließ sich darauf, dass sie um sieben Uhr die kranke Becky übernahm. Außerdem war sie inzwischen so durchgefroren, dass sie eine schwere Erkältung bekommen würde, wenn sie noch länger im Auto sitzen blieb.
Sie stieg aus, ging langsam und unschlüssig die Straße entlang. Sie hoffte immer noch, er werde plötzlich auftauchen, wie aus dem Nichts vor ihr stehen, diesem langen, tristen Warten noch einen Sinn geben.
Ihr kamen fast die Tränen bei der Vorstellung, nach Hause fahren zu müssen. Sie blieb stehen. Sie war am Ende der Straße angelangt, und direkt neben ihr befand sich ein Lokal. Indisch. Paddington war inzwischen von Indern und Pakistanis förmlich überschwemmt, und an jeder Ecke gab es ein Geschäft oder eine Gaststätte, die Spezialitäten aus diesen Teilen der Welt anboten. Dieser Laden wirkte ziemlich heruntergekommen, aber das Licht hinter den schlecht geputzten Fensterscheiben verhieß zumindest Wärme. Und sich dort hineinzusetzen bedeutete, nicht sofort den Heimweg antreten zu müssen.
Soll Tom eben eine Stunde später in den Club gehen, dachte sie und stieß entschlossen die Tür auf.
Es herrschte fast kein Betrieb. Hinter dem Tresen stand ein Mann und fummelte an einer altersschwach wirkenden Kaffeemaschine herum, die eine Reparatur dringend nötig zu haben schien. An einem Ecktisch saß ein junges Paar, schwieg und starrte vor sich hin. Es gab ein paar Tannenzweige, die schon reichlich Nadeln verloren hatten, an den Fenstern, und von dem Leuchter in der Mitte des Raumes baumelten silberne Kugeln.
»Haben Sie geöffnet?«, fragte Gillian.
Der Mann, eindeutig indischer Herkunft, blickte von seiner Kaffeemaschine auf und nickte. »Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, ja. Ist ziemlich ruhig zu dieser Zeit. Na ja, kann man nichts machen. An Silvester habe ich dann dafür das Chaos hier.« Er musterte sie. »Sie sehen aber ganz schön verfroren aus, liebe Güte! Ist ein ziemlich frostiger Winter dieses Jahr!«
»Ja.« Sie schälte sich aus ihrem Mantel. Ihr war so kalt, dass sie kaum ihre Arme bewegen konnte.
»Also«, meinte der Wirt, »ich würde Ihnen erst einmal zu einem kräftigen Schnaps raten. Und ich habe heute eine schöne heiße Suppe. Würde Ihnen guttun.«
Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, nahm erleichtert wahr, wie ihre Füße kribbelnd auftauten. Es war überraschend angenehm, allein in einem fast leeren Restaurant zu sitzen, wie sie feststellte. Sie konnte ein bisschen Smalltalk mit dem Wirt machen, musste sich aber mit niemandem tiefgründig unterhalten. Sie konnte sich der Wärme hingeben, essen, trinken oder einfach nur die Wand anschauen. Wie das Pärchen in der anderen Ecke, das auch nichts anderes tat. Es wurde nichts von ihr erwartet. Vielleicht lag darin das gute Gefühl.
Der Wirt brachte den Schnaps und einen Teller mit dampfender Suppe. Einer Eingebung folgend fragte Gillian: »Kennen Sie zufällig John Burton? Kommt er manchmal hierher?«
Der Wirt nickte. »Klar kenne ich John. Wohnt hier in der Straße. Kommt oft mal auf die Schnelle vorbei, um einen Happen zu essen.« Er musterte sie neugierig. »Sind Sie eine Freundin von ihm?«
Kurz kam Gillian der ungute Gedanke, dass vielleicht öfter Freundinnen von John in dieser Kaschemme aufkreuzten. Frauen, die vergeblich auf ihn warteten. Sie fragte sich, welches Bild der Wirt in diesem Fall von ihr hatte: mittelalte Frau, in den gut aussehenden Burton verknallt, halb erfroren vom Warten vor seinem Haus und nun hoffend, dass es ihn irgendwann in dieses Pub ziehen würde.
Sie mochte diesen Eindruck nicht erwecken, daher sagte sie: »Er trainiert meine Tochter im Handball. Daher kenne ich ihn.«
»Ach so!« Es war dem Wirt anzumerken, dass er gern mehr erfahren hätte, aber er traute sich glücklicherweise nicht, weitere Fragen zu stellen.
»Dann lassen Sie es sich mal schmecken«, sagte er nur und zog sich wieder hinter
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