Beobachter
seinen Tresen zurück.
Die Suppe war scharf und sehr heiß und weckte Gillians Lebensgeister. Als sie fertig war, bestellte sie eine Flasche Mineralwasser und nahm sich eine Zeitung von einem zur Selbstbedienung ausliegenden Stapel. Die Zeitung war drei Wochen alt, dennoch las sie sie konzentriert, ohne eine einzige Zeile auszulassen. Das Paar in der Ecke schwieg noch immer. Der Wirt schwieg. Er hatte das Radio eingeschaltet. Es wurden Witze erzählt.
Sieben Uhr vorbei.
Halb acht vorbei.
Acht Uhr vorbei.
Seltsam, wie leicht sie sich fühlte. Einfach nur dadurch, dass sie sich die Freiheit nahm, die Erwartungen, die andere an sie richteten, zu ignorieren.
Die Uhr ging auf halb neun. Gillian hatte drei Zeitungen durchgelesen, nach der Suppe noch etwas Fladenbrot gegessen und noch eine zweite Flasche Mineralwasser getrunken. Sie fühlte sich gut, obwohl sie wusste, dass ein wahrscheinlich ziemlich wütender Tom daheim auf sie wartete und dass es mit ihm unweigerlich zu einem Streit kommen würde. Sie begriff inzwischen, dass dies einer der Gründe war, weshalb sie in dieses Lokal gegangen war und etwas tat, was nicht zu ihr passte und was sie sich selbst nie zugetraut hätte: Sie hielt ein Versprechen bewusst nicht ein. Sie agierte unzuverlässig und egoistisch. Sie stürzte einen anderen Menschen – ihren Mann – in Ungewissheit und Sorgen. Sie legte ein Verhalten an den Tag, das sie eigentlich verabscheute und ablehnte. Aber diesmal wollte sie unter allen Umständen den Streit. Wollte eine Eskalation. Sie war sogar entschlossen, Tom von John zu erzählen.
Wie würde er reagieren? Fassungslos? Aggressiv?
Vielleicht wollte sie das Ende ihrer Ehe.
Obwohl sie mit sich im Einklang war, keine Furcht empfand und das Gefühl hatte, das Richtige zu tun, wurde sie doch die ganze Zeit über das Empfinden nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Etwas an der Situation irritierte sie, aber sie wusste nicht, was es war.
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, dachte sie.
Um zwanzig vor neun stand sie auf, zog ihren Mantel an, ging zum Tresen und bezahlte ihre Rechnung. Das Pärchen war verschwunden, sie war der letzte und einzige Gast.
»Na? Geht’s nach Hause?«, fragte der Wirt. Sie spürte, dass er sie nicht einordnen konnte. Frauen, die so lange völlig allein in einer Kneipe saßen, betranken sich für gewöhnlich, ersäuften ihren Kummer, den Frust um irgendeinen Typen in jeder Menge Wein und Schnaps. Sie schwankten, wenn sie sich schließlich auf den Heimweg zurück in eine leere Wohnung und in ein kaltes Bett machten. Gillian hatte bis auf den ersten Schnaps nur literweise Wasser getrunken und offenkundig interessiert gelesen.
Soll er sich seine Gedanken machen, dachte sie.
Sie trat auf die Straße. Es war kalt, neuer Schneefall hatte eingesetzt. Die frische Luft tat gut nach dem stickigen Geruch, der drinnen geherrscht hatte. Auch war es angenehm, keine hektischen Radiostimmen mehr zu hören. Gillian atmete tief durch.
Während sie zu ihrem Auto ging, suchte sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Dabei stieß sie plötzlich gegen ihr Handy, blieb stehen. Schlagartig wusste sie, was sie untergründig die ganze Zeit über gestört hatte: das Handy. Es hatte nicht ein einziges Mal geklingelt. Dabei wäre zu erwarten gewesen, dass spätestens ab Viertel nach sieben Tom im Fünf-Minuten-Takt bei ihr anrief, um zu fragen, wo sie blieb. Weil er weg wollte. Aber auch, weil er sich Sorgen machte.
Sie nahm es aus der Tasche, vergewisserte sich im Schein einer Straßenlaterne, dass es eingeschaltet war. Sie schaute auf das Display. Nicht ein einziger Anruf in Abwesenheit.
Plötzlich sehr unruhig beschleunigte sie ihren Schritt. War Tom so wütend, dass er nicht einmal anrief?
Es passte nicht zu ihm.
Sie schloss ihr Auto auf. Es war zehn vor neun, als sie losfuhr.
2
Sie bog um Viertel vor zehn in die Einfahrt zu Hause ein. Im Erkerfenster des Wohnzimmers, das zum Vorgarten hinausging, brannte Licht. Die Vorhänge waren nicht vorgezogen, was sehr irritierend war: Tom hasste es, auf dem Präsentierteller zu sitzen,wie er es nannte. Es sah ihm absolut nicht ähnlich, das Licht anzuschalten und die Gardinen offen zu lassen.
Sie stieg aus, verschloss das Auto. Ihr war sehr beklommen zumute. Sie hatte sich so stark gefühlt, als sie in London in der Gaststätte gesessen und ihr Leben mit Tom infrage gestellt hatte, aber nun, da sie ihrem Mann gleich würde gegenübertreten müssen, hatte sie weiche Knie
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