Beobachter
Füßen hin zu ihrer Tochter, kniete neben dem Koffer nieder, klappte den Deckel zurück und schlang beide Arme um Becky.
»Becky! Um Himmels willen … was ist passiert? Was ist denn nur passiert?«
Becky versuchte sich aufzurichten, fiel aber mit einem Aufstöhnen in sich zusammen.
»Mummie, meine Beine! Meine Beine tun so schrecklich weh!«
Gillian massierte mit hektischen Bewegungen die Beine ihres Kindes. Becky musste in einer völlig verkrampften und verdrehten Haltung in dem Koffer gelegen haben, und das möglicherweise über mehrere Stunden. Es war kein Wunder, dass ihr alle Knochen schmerzten.
»Das wird wieder, Schatz, das ist bald vorbei. Was ist passiert?«
Becky sah sich aus riesigen, grauenerfüllten Augen um. »Ist er noch da?«
»Wer?«
»Der Mann. Er hat irgendetwas Schlimmes mit Papa gemacht, und dann hat er das ganze Haus nach mir abgesucht. Vielleicht ist er noch irgendwo.«
»Ich glaube nicht. Wer war das?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht!«
Gillian erkannte, dass die Pupillen in Beckys Augen unnatürlich groß und völlig starr waren. Sie brauchten sofort einen Arzt. Sie brauchten die Polizei.
Sie zog Becky in die Höhe. »Geht es? Kannst du laufen?«
Becky unterdrückte einen Jammerlaut. »Ja. Nein. Es … geht schon …« Mit schmerzverzerrtem Gesicht stützte sie sich auf Gillian, die versuchte, mit dem Fuß das Gerümpel beiseitezuschieben und eine Art Gasse für sich und Becky zu bauen. Irgendwie erreichten sie die Tür.
Becky schrak vor dem gleißend hellen Licht im Treppenhaus zurück. »Bist du sicher, dass er nicht mehr da ist?«, flüsterte sie.
Gillian nickte, äußerlich ruhiger, als sie sich eigentlich fühlte. »Ich bin ja durch das ganze Haus gelaufen. Da ist niemand.«
Sie war nicht im Keller gewesen. Ausgerechnet ihr Haus gehörte zu den in England nicht unbedingt üblichen Häusern mit Unterkellerung. Was Gillian immer sehr gut gefunden hatte, weil es ihnen zusätzlichen Platz bot. Jetzt wünschte sie, es wäre anders.
Aber weshalb sollte sich jemand dort verborgen halten?
Ein Killer, der wartet, dass Becky aus ihrem Versteck auftaucht. Becky, die ihm gefährlich werden kann. Die in der Lage ist, den Täter zu identifizieren?
Sie humpelten die Treppe hinunter. Dort schob Gillian Becky in ihr Zimmer. »Du schließt dich dort jetzt ein! Und du machst nicht auf, bis ich es sage, verstanden?«
Becky krallte sich sofort an ihrer Mutter fest. »Mummie! Geh nicht weg, bitte! Lass mich nicht alleine!«
»Ich muss die Polizei anrufen, Becky. Und den Notarzt. Bitte warte in deinem Zimmer! Und schließ ab!«
»Mum …«
»Bitte!« Gillian merkte, wie die Nervosität Schärfe in ihre Stimme legte. »Tu, was ich sage, Becky!«
Sie machte sich von ihrer Tochter los. Es war klar, dass Becky drauf und dran war, jeden Moment hysterisch zu werden, und vorher musste Gillian sie in Sicherheit bringen und die Polizei verständigen.
»Geh in dein Zimmer, Becky! Sofort!«
Becky schaute ihre Mutter an. Immer noch ein kalkweißes Gesicht mit fiebrigen Flecken. Immer noch die starren Pupillen.
»Wo warst du, Mummie? Wo warst du denn bloß den ganzen Abend?«
Gillian gab ihr keine Antwort.
DONNERSTAG, 31. DEZEMBER
Er war außer Atem, als er vor der Haustür ankam, obwohl er sich bemüht hatte, ganz normal zu laufen. Er hatte Angst gehabt, am Ende einer Polizeistreife aufzufallen, wenn er wie ein Verrückter durch die Nacht jagte. Er wusste nicht, wie schnell die Mühlen mahlten. Lief bereits eine Fahndung nach ihm? Hatte jeder Polizist bereits ein Foto und eine Beschreibung von ihm vorliegen? Wurde mit Hochdruck nach ihm gesucht?
Er wischte sich mit der Hand über die Stirn, stellte erstaunt fest, dass sein Gesicht klatschnass war. Und das in dieser kalten Nacht, fast zehn Grad unter dem Gefrierpunkt.
Es war halb elf, noch eineinhalb Stunden bis Mitternacht. Aber überall in der Stadt gingen bereits Raketen hoch und sprühten ihre wilden, bunten Muster in den dunklen Himmel. Vereinzelt zogen Gruppen fröhlicher Menschen, zum Teil schon ziemlich alkoholisiert, durch die Straßen, allerdings nicht viele. Es war einfach zu kalt. Wer konnte, blieb zu Hause.
Er blickte an der Fassade hinauf. Ein Mehrfamilienhaus im Stadtzentrum von Southend. Außer in der obersten Wohnung brannte in allen Etagen Licht. Von irgendwoher erklang laute Musik. Natürlich, wer ging schon schlafen in der Silvesternacht? Die Menschen feierten, kamen zusammen, tanzten und amüsierten sich.
Wenn
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