Beraubt: Roman
entlangzuschleichen.
An der Türschwelle blieb er stehen. In der Finsternis konnte er kaum etwas erkennen, nur einen Lichtfaden zwischen den Vorhängen. Nach ein paar Sekunden, durch das unterseeische Dunkel hindurch, das Funkeln eines Spiegels und eine Haarbürste auf einem Frisiertisch. Aufglimmende und wieder verschwindende Staubkörnchen. Ein Holzstuhl. Schwankende Bücherstapel auf dem Fußboden. Der Rest des Hauses, ja die gesamte Welt, kam ihm weit weg vor. Und hoch oben an der Wand, in einem hölzernen Rahmen, ein Bildnis des leidenden Christus, der an seinem Kreuz zerging – die Schultern eingesunken, Blut aus der Wunde an seiner Seite triefend, der hagere, eingefallene Brustkorb. Direkt vor den Vorhängen am Fenster nahm allmählich ein Bett Gestalt an, ganz zerwühlt, die Bettwäsche ein richtiges kleines Gebirge. Eine Hand auf der Tagesdecke. Lange, schmale Finger. Ein schlafender Mensch. Eine Frau.
Der seltsame Geruch, der ihm aufgefallen war, war hier noch stärker, geradezu überwältigend. Quinn hielt sich die Lavendelzweige an die Nase und unterdrückte ein Husten. So stand er mehrere Minuten da, bevor er sich der Anziehungskraft der Vergangenheit, der Familie, der Liebe beugte und zu seiner Mutter schlich.
Sie sah nicht gut aus. Unter einem Gewirr aus Decken lag sie mitten auf einem großen Bett. Ihr Gesicht, das er als rund und lächelnd in Erinnerung hatte, war jetzt schmal und länglich. Ihr Atem ging schwer und heftig, als läge sie halb im Schlamm begraben. Und um ihren Hals, an ihrer verschwitzten Kehle, hing die Ursache des ungewohnten Geruchs: eine klobige Kette aus aufgefädelten Kampferkugeln.
Quinn stand eine Weile wie angewurzelt da und betrachtete seine Mutter. Ihr langes dunkles Haar ergoss sich über das Kissen. Eine der Kampferkugeln schmiegte sich in die feuchte, zitternde Mulde ihrer Kehle. Die Uhr tickte. Seine Mutter sah furchtbar aus, aber wenigstens war sie am Leben. Quinns Erleichterung spülte alles hinweg.
Sie regte sich unter der aufgetürmten Bettwäsche und schlug die Augen auf. Sofort richtete sie den Blick auf ihn, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, wo er bei seiner Rückkehr – egal, wie viele Jahre später – stehen würde. Dennoch schreckte sie zurück. »Wer bist du?«, krächzte sie.
Quinn zog die Lavendelzweige vor seinem Gesicht weg.
»Mein Gott«, sagte seine Mutter. »Mein Gott.« Ihr Blick fiel auf den Revolver in seiner anderen Hand. »Bist du gekommen, um mich zu holen? Ich bin noch nicht so weit. Bitte noch nicht.«
Quinn war sprachlos. Er starrte in die schreckgeweiteten Augen seiner armen Mutter und flüchtete.
4 Ein weiterer Tag verstrich. Rastlos, bestürzt über den Zustand seiner Mutter in ihrem düsteren Schlafzimmer, blieb Quinn nah bei seinem Lagerplatz, wagte sich hin und wieder ins umliegende Buschland und döste den Rest der Zeit vor sich hin. Hinter den Lidern hervor sprang ihm das Gesicht seiner Mutter entgegen, ausgemergelt und ängstlich.
Am Spätnachmittag, als die Sonne nicht mehr so brannte, stieß er auf eine kreisförmige Graslichtung. Einen Augenblick verweilte er im angenehmen Schatten der umstehenden Bäume, doch dann schlich er in den Sonnenschein. Schließlich war hier nicht Frankreich; hier gab es keine Scharfschützen. Trotzdem vergrub er die Hand in seiner Uniformjacke, um den Revolver zu berühren, als handelte es sich um ein Kruzifix, das durch sein Darüberstreichen Gott auf seine Sorgen aufmerksam machen könnte. Das Gras reichte ihm bis zu den Knien, lange Garben bogen sich und rauschten im Wind. Er starrte in den blauen Himmel hinauf. Krähen und andere Vögel, diese glücklichen, von der Schwerkraft befreiten Wesen, schwebten hoch über ihm, nur kleine Punkte vor der Weite des Himmels.
Er schloss die Augen, um die Wärme der Sonne besser spüren zu können. Bald darauf wurde er von einem durchdringenden Schrei aufgeschreckt. Blinzelnd blickte er sich um und sah am Rand der Lichtung ein kleines, zitterndes Lamm. Vermutlich hatte ein Farmer seine Herde zum Grasen heraufgebracht, und diese arme Kreatur war von ihrer Mutter getrennt worden. Während das Tier im hohen Gras umherwankte, war nur sein Kopf zu sehen. Als es Quinn wahrnahm, legte es den Kopf schief und kam blökend angetrottet. Quinn blieb reglos, erstaunt, dass es sich so bereitwillig näherte. Das Lamm starrte ihn mit tollpatschigem Blick an und verscheuchte mit einem Zucken die Fliegen aus seinen Ohren und dem Gesicht. Dann blökte es wieder
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