Beraubt: Roman
umrahmte Veranda. Fackellilien und Lavendel. An einer behelfsmäßigen, ins Verandageländer geklemmten Stange hing schlaff eine gelbe Flagge. Quarantäne. Edward Fitch hatte recht. Ein Hausbewohner hatte sich angesteckt.
Nach ungefähr zwanzig Minuten kam ein Mann aus dem Stall und zog das breite Tor auf. Quinn erkannte ihn kaum wieder. Er bewegte sich mit unbeholfenen Schritten, als wären seine Füße aus Glas oder Lehm. Es war sein Vater, Nathaniel Walker, älter, das strähnige Haar ergraut, noch langgliedriger, als ihn Quinn in Erinnerung hatte. Er zog sich tiefer ins Gebüsch zurück, und kurz darauf führte sein Vater ein Pferd aus dem Stall, hievte sich in den Sattel, ritt zwischen den Wache stehenden Zypressen hindurch, die den kurzen Zufahrtsweg säumten, und hinterließ eine Staubwolke, die sich erst nach mehreren Minuten wieder senkte.
Quinn blieb im Geraschel und Gesumm des Gebüschs. Wenn er im Krieg etwas gelernt hatte, dann lange reglos am selben Fleck zu verharren. Fliegen umschwirrten sein verschwitztes Gesicht. Wie gebannt starrte er das etwa siebzig Meter entfernte Haus an, als wäre es aus den Trümmern einer Sinnestäuschung erbaut worden. Es war kleiner, als er es in Erinnerung hatte, aber das galt auch für alles andere. Entweder kleiner oder größer. Das Gedächtnis war ungenau, man konnte ihm nicht trauen.
Als er das Gefühl hatte, dass sein Vater nicht zurückkehren würde und sonst niemand im Haus war, kroch er aus dem Gebüsch und näherte sich dem Gebäude, wobei er eine Staubwolke aufwirbelte. Am Fuß der Stufen blieb er stehen, um die Hand über die schaukelnden Köpfe des Lavendels gleiten zu lassen. Er brach eine Handvoll Blüten ab, rollte sie zwischen den Fingern und hielt sie sich an die Nase. Eine der wenigen Pflanzen, deren Duft ihrem Aussehen entspricht, dachte er. Unterm Haus strömte eine moderige Luft hervor, die eine Flut von Erinnerungen heraufbeschwor, die Rufe eines spielenden Kindes. Im Sommer hatte er dort mit seinen Geschwistern im Schatten gehockt und Verstecken oder Knöchelchen gespielt. Wahrscheinlich war auch jetzt noch ein verrotteter Leinenbeutel voller Schafsknochen irgendwo in der Erde vergraben, zusammen mit den Namen, die er und William mit einem Messer in die Balken geschnitzt hatten, und den skurrilen geflügelten Tieren, die Sarah mit ihrem Kreidestummel gezeichnet hatte. William hatte es immer gefallen, dass seine Initialen WW lauteten, und er hatte nie gezögert, sie in Bäume oder Pfosten zu ritzen, wenn sich die Gelegenheit bot.
Eingedenk dessen, was Fitch ihm über die Leute erzählt hatte, die ihm an den Kragen wollten, zog Quinn den Revolver und blieb an der Fliegengittertür stehen. Aus dem Innern des Hauses drang Grabesgeruch. Er überlegte, ob er umdrehen sollte, bevor es zu spät war, doch dann wurde ihm klar, dass es schon seit vielen Jahren zu spät war. Nein, er musste weitermachen. Nachdem er diesen ganzen Weg zurückgelegt hatte. Nach all den Jahren. Er trat ein.
In der Küche atmete und bemerkte er den Geruch von – was? – etwas Scharfem, Medizinischem, zugleich heimelig und fremd. Alles hier war trocken und ausgelaugt, entfärbt. Schwermut durchflutete ihn, wie Wein, der dunkel durch Wasser glitt. Vor ihm der zerschrammte Holztisch, an dem er mit seiner Familie Hunderte von Mahlzeiten eingenommen hatte. Wo William ihn mit marmeladeverschmierten Lippen angegrinst und Sarah, seine geliebte Sarah, sich herübergebeugt und ihm ihre jüngste Idee für ihr nächstes Abenteuer ins Ohr geflüstert hatte. Wo ihnen ihr Vater das Neueste erzählte, das er von einem Mann im Mail Hotel erfahren hatte, während ihre Mutter sie aufforderte, bitte still zu sein und zu essen.
Die Stühle rings um den Tisch zeigten in alle Richtungen, als wären alle, die dort gesessen hatten, geflüchtet, was ja vielleicht auch stimmte. Brotkrümel auf einem Schneidebrett, eine Dose Honig. Neben der Tür stand ein Korb mit Tellern und Krügen auf dem Fußboden. Ein Funken Sonnenlicht auf einem Teelöffel, ein herabhängendes rosa Gänseblümchen in einem unbenutzten Arzneifläschchen. Quinns Herz blähte sich in der Brust. Er hörte ein schwaches Stöhnen, ein Knarren, und hielt inne, um zu lauschen. Er steckte sich den Finger ins Ohr. Wieder hörte er es, nur den Hauch eines Geräuschs. Dann nichts mehr. Überall im Haus, oben und unten, war es still. Dann wieder ein leises Stöhnen, das aus dem Zimmer seiner Eltern kam. Er zwang sich, den schummrigen Flur
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