Beraubt: Roman
den Bäumen hindurchstapfen sah.
Quinn überlegte, welche Möglichkeiten ihm blieben. Der Abhang auf der anderen Seite war zugewuchert und viel zu steil. Robert würde ihn bestimmt erwischen und dann nach Flint schleifen, zu seinem Vater, der sehnsüchtig darauf wartete, Quinn für die Tat zu hängen, die er vermeintlich begangen hatte. Seine einzige Chance war, am Bachbett entlangzuklettern und darauf zu hoffen, dass es zu einem sichereren Ort führte. Den Arm erhoben, um sein Gesicht zu schützen, tauchte er unter einem Gewirr von Zweigen zu seiner Linken hindurch.
Das Bachbett war uneben, voller Löcher und übersät mit morschen Zweigen. Sein Atem ging in rauen, bleiernen Stößen. Er bückte sich, um, das Gesicht nur ein paar wenige Zentimeter vom Boden entfernt, unter den niedrigsten Zweigen hindurchzukriechen, und sah sich plötzlich einem dicken, glänzenden Kothaufen gegenüber, der sich auf den zweiten Blick als eine braune Schlange entpuppte, die zusammengerollt auf einem Felsen lag.
Quinn erstarrte. Schweißperlen rannen ihm über Gesicht und Hals. Er hielt, so gut er konnte, den Atem an. Er spürte, wie die trockene Hitze von dem ausgedörrten Felsen aufstieg, dieselbe Wärme, die wohl auch die Schlange angelockt hatte. Es war eine dicke Mulgaschlange, die vermutlich schon seit Jahren hier lebte. Quinn und das Tier starrten sich einen Augenblick an. Schlangen blinzeln nicht, verraten nicht das Geringste von sich und könnten genauso gut hohl sein.
Genüsslich wie ein verschlafener Bohemien nach einem Vormittagsnickerchen streckte sich die Schlange. Ihre blaugraue Zunge schnellte prüfend umher und stellte ihre reptilischen Berechnungen an. Quinn wusste, dass sie bei einer abrupten Bewegung zustoßen würde. Sein Herz pochte, und seine Haut juckte unter der Uniform. Die Schlange legte sich flach auf den Boden und machte sich bereit. Die Welt ringsum löste sich auf. Der jähe Entzug jeglicher Gefühle erinnerte ihn an den Sekundenbruchteil, bevor in Pozières die Granate neben ihm eingeschlagen war. Dasselbe Wissen und Unwissen.
Er griff in seinen Tornister, um den Revolver herauszuholen. Er würde die Schlange erschießen, auch wenn der Knall seinen Standort verriet. Er musste es tun. Und dann laufen. Er würde sie erschießen und loslaufen. Das Reptil im Auge behaltend, kramte er in seiner Tasche. Nichts. Der Revolver war weg. Offenbar hatte er ihn auf der Flucht verloren. Verdammter Mist! Verdammter Mist! Die Schlange entrollte sich noch. Quinn wollte sich zurückziehen, doch die schleppende Bewegung wurde von einem Zweig aufgehalten, der sich an der Schulter seiner Uniform verfing. Er fühlte sich kraftlos und murmelte ein Gebet.
Plötzlich stieß eine Hand herab und packte die Schlange im Nacken. Das Mädchen stand vor ihm und hielt das zappelnde Tier in den schmalen Fäusten. Die Schlange wand sich zischend und schlang ihren langen Körper um den Unterarm des Mädchens. Das Gesicht vor Anstrengung verzogen, wickelte sie die Schlange von ihrem blassen Arm, ging an Quinn vorbei und warf sie, nachdem sie das Ganze mehrmals abgeschätzt hatte, in die Richtung, aus der Quinn gekommen war, in die Schlucht. Als sie sich umdrehte, glühten ihre Wangen vor Angst und Freude, als wäre das Erlebnis nur eine lustige Geschichte aus dem Boy’s Own Paper . »Das dürfte ihn aufhalten«, sagte sie lachend.
Quinn war sprachlos. Er ließ die Hand über den verunstalteten Teil seiner Lippe gleiten. Sein Mund war trocken, und sein Kopf dröhnte vor Hitze und Müdigkeit, als wollte er in das Konzert der Fliegen und Zikaden in den umstehenden Bäumen einstimmen.
Das Mädchen kletterte über ein paar Felsen durch eine schmale Lücke im Unterholz, die ihm entgangen war. Dann blieb sie stehen, um sich ihm zuzuwenden. »Du solltest mitkommen.«
Als er Robert Dalton die trockene Schlucht heraufkommen hörte, kletterte er ihr nach.
9 Der Lärm des Verfolgers verstummte schon bald. Vermutlich war sein Onkel auf die wütende Schlange gestoßen und hatte sich zurückgezogen. Bei diesem Gedanken musste Quinn lächeln. Mit Mühe folgte er dem Mädchen, kroch steile Hänge hinauf durch dichtes Laub, in dem er manchmal bis zu den Knien einsank. Hin und wieder verlor er sie völlig aus den Augen, aber jedes Mal tauchte sie, auf einem Zweig kauend oder die Rinde von einem Baum schälend, wieder in seiner Nähe auf und trieb ihn leise an.
Nach dem immerwährenden Herbst Europas, den der feuchte Staub des Krieges noch
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