Beraubt: Roman
ich weiß nicht, wer.«
Sadie wirkte nicht überrascht. Sie räusperte sich. »Das ist es, was Mr. Dalton von mir will, stimmt’s?«
Quinn gab keine Antwort. Es war grotesk, dass ein kleines Mädchen auch nur die leiseste Ahnung haben sollte, was solch ein Mann von ihr wollte.
»Was ist passiert? Was hast du gesehen?«, beharrte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann’s dir nicht sagen.«
»Bist du gekommen, um dich zu rächen?«, fragte sie.
»Nein …« Er unterbrach sich. »Keine Ahnung.«
»Solltest du aber. Besonders, wenn alle glauben, dass du’s warst.«
Er wedelte mit der Hand. »Vielleicht gehe ich zur Polizei und erzähle, was passiert ist. Wer es war.«
Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Hat dir das keiner gesagt?«
»Was gesagt?«
»Du weißt es nicht?«
»Was denn?«
»Robert Dalton ist die Polizei.«
Quinns Mut erschlaffte. »Das glaub ich dir nicht.«
Sie starrte ihn an. Ihre Augen funkelten wütend. »Robert Dalton ist der Polizist in Flint. Für den ganzen Distrikt. Diesen Job hat er vor Jahren von Mr. Mackey übernommen. Niemand wird glauben, dass er deine Schwester umgebracht hat. Das weißt du doch. Sie mögen ihn. Sie halten ihn für ehrlich und rechtschaffen. Das hab ich gehört. Von allen. Obwohl er Grog trinkt. Sie reden über ihn, als wär er ein Heiliger. Sogar deine Mutter. Gerade deine Mutter.«
Quinn saß sprachlos da. Ihm war übel, als wäre sämtliche Luft aus dem Zimmer entwichen.
»Aber du warst damals dort«, fuhr Sadie fort. »Das hat dein Vater gesagt.«
Er beugte sich vor, bis ihre Augen auf gleicher Höhe waren. »Und warum hast du keine Angst vor mir, wenn mich alle so nennen? Wenn ich der Mörder bin?«
Sie ließ sich nicht einschüchtern. »Darum. Weil ich sehe, dass dir Mr. Dalton genauso viel Angst macht wie mir.«
Als es dunkel war, aßen sie kalte Bohnen mit trockenem Brot, und Sadie erzählte Quinn noch manches andere: von Mrs. Taylor, die jede Nacht über den Tod ihrer drei im Krieg gefallenen Söhne weinte; vom Sohn der McClarens, der an der Seuche gestorben war und dem Blut aus dem Ohr rann, als man ihn aus dem Haus trug; von Casey Smail, der Tochter des Pfarrers, die von einem Handlungsreisenden geschwängert worden war und der sie von einem Chinesen einen Trank verabreichen ließen, um ihr Baby zu töten; vom Sohn der Harmans, der bei seiner Rückkehr aus dem Krieg vom Teufel besessen war; und von den spätnächtlichen Besuchen seines Onkels Robert Dalton bei der verwitweten Mrs. Higgins. Sie erzählte, wer tot war, wer verheiratet – die Ereignisse, die sich im Lauf der Zeit miteinander verflechten und die Chronik einer Kleinstadt ergeben.
Das Mädchen redete einfach lachend drauflos und gab alle möglichen Einzelheiten zum Besten, als müsste sie sich der Informationen, die sie gesammelt hatte, dringend entledigen. »Ich gehe nachts in den Ort und schaue zu den Fenstern rein«, sagte sie schulterzuckend, als Quinn fragte, woher sie so viel über die Geschehnisse in Flint wisse. »Das tu ich schon seit Jahren. Ich horche. Die Leute wissen nicht mal, dass ich da bin. Ich verstecke mich unterm Haus oder im Gebüsch. Die Leute reden über alles Mögliche. So hab ich schon viele Geheimnisse erfahren. Das habe ich gemeint, als ich sagte, dass ich dir helfen kann. Ich kann vieles herausfinden.«
Sie erzählte ihm von ihrem Bruder Thomas, der sich um sie gekümmert hatte, wenn ihre Mutter, die Näherin gewesen war, in Bathurst Vorräte kaufte oder Besorgungen machte. Er war als Pilot in den Krieg gezogen. »Ich muss warten, bis Thomas zurückkommt. Der Krieg ist vorbei, oder? Er weiß, was er zu tun hat, er wird sich um mich kümmern. Ich rechne jeden Tag mit seiner Rückkehr.«
Quinn brach ein Stück Brot ab und schob es sich in den Mund. »Ja, der Krieg ist seit ein paar Monaten vorbei.«
Sie strahlte und sagte dann, sie wisse von keinen anderen Verwandten, abgesehen vielleicht von einem Onkel in Perth, doch sie kenne seinen Namen nicht und Perth sei ja auch ziemlich weit weg, oder? Sie könne nirgendwo anders hin. Sie müsse hier auf Thomas warten, bestimmt halte ihn die Seuche auf, deshalb dauere alles so lange.
Später in der Nacht, als er schon im Dunkeln auf dem Fußboden lag, sang Sadie im Nebenzimmer ein Kirchenlied.
Schon bald sehen wir uns wieder
In diesem herrlichen Land
Schon bald sehen wir uns wieder
In diesem herrlichen Land
Quinn dachte an den Abend der Séance zurück, als er in jenem
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