Beraubt: Roman
Haarbüschel hervor zu beobachten, während ihr Vater sich über irgendwas ausließ, das er von jemandem im Mail Hotel erfahren hatte.
»Warst du verheiratet, Quinn? Hattest du Kinder?«
Er schüttelte den Kopf. Nachdem er Sarah verloren hatte, hatte er sich nicht vorstellen können, wieder jemanden mit solcher Hingabe zu lieben, aus Angst, dass ihm auch dieser Mensch genommen werde. Einmal hatte es ein Mädchen gegeben, Emily, die Tochter eines Farmers, für den er vor dem Krieg gearbeitet hatte. Sie hatte dunkles Haar, war hübsch und hatte eines Abends sogar mit dem Finger seine Wange gestreichelt. Manchmal versuchte er sich vorzustellen, was sie jetzt machte, begnügte sich dann aber mehr oder weniger mit diesem Traum von ihr.
Seine Mutter seufzte. »Es ist ein seltsamer Handel, den man mit den Göttern eingeht – dass man für die reinste Liebe, die man sich vorstellen kann, die ständige Angst ertragen muss, dem eigenen Kind könnte etwas Schreckliches zustoßen, und man trägt selbst die Schuld daran, weil man es zur Welt gebracht hat. Wie oft ich an dich gedacht habe. Mütter glauben nie, dass ihre Kinder tot sind. Das habe ich bei anderen erlebt, deren Söhne im Krieg gefallen sind. Gott, ist das furchtbar. Monate nach Erhalt dieses Telegramms stehen sie immer noch am Küchenfenster, um zu überprüfen, ob am Tor nichts von ihnen zu sehen ist. Ich wache nachts auf. Dein Kind«, fuhr sie mit zitternder Stimme fort, »bleibt immer dein Kind, egal, wie alt es ist. Du sorgst dich, wenn es ein Geräusch macht, und sorgst dich, wenn nicht. Das ist eine schreckliche Liebe. Ganz schrecklich.«
Es trat ein beklommenes Schweigen ein. Ihr tränenfeuchter Blick fiel auf Quinns Hand. »Hast du mir etwas mitgebracht?«
Er reichte ihr die Blumen, die von seinem festen Griff ganz schlaff waren.
Seine Mutter bekundete lautlos ihre Freude. Sie befingerte den Rosenkranz aus Kampferkugeln an ihrem Hals. »Der Gestank tut mir leid. Das ist gegen meine Krankheit. Diese … Grippe oder was es auch ist. Es soll die Luft reinigen.« Und mit einer Geste, die Quinn an die Nachmittage vor fünfzehn Jahren erinnerte, an denen sie ihn und Sarah heimlich mit frisch gebackenen Keksen verwöhnt hatte, während ihr Vater und William draußen arbeiteten, wedelte sie verächtlich mit der Hand. »Ich glaube nicht, dass es hilft, aber dein Vater hat drauf bestanden. Das halbe Land stirbt an dieser Krankheit. Das heißt, die Hälfte, die nicht schon im Krieg umgekommen ist. Er hat das Ding selbst gemacht, weißt du? Er ist sehr stolz auf das Werk seiner Hände.«
Quinn stellte sich vor, wie sein Vater die Kampferkette bei Kerzenlicht mit seinen rußfleckigen Wurstfingern knüpfte, wie er sich dem Ganzen mit derselben Konzentration widmete, die er für jede Aufgabe zum Nutzen seiner Familie aufbrachte. Ihm schnürte sich vor Rührung die Kehle zu.
Seine Mutter hielt sich den Lavendelstrauß vors Gesicht und schloss die Augen, um den Duft einzuatmen. »Lavandula. Eine sehr alte Blume. Sie wird schon im Hohelied Salomos erwähnt, unter einem anderen Namen – ich weiß nicht mehr, was für einem. Erinnerst du dich noch an den Namen, Quinn? Ich bin mir sicher, dass ich dir davon erzählt habe. Fängt, glaube ich, mit N an. Er fällt mir bestimmt noch ein.«
Mary döste und schreckte irgendwann hoch. Als hätte sie Angst, dass er sich verabschieden wolle, sagte sie: »Erzähl mir, wo du warst. All die Jahre.«
»Ich war an vielen Orten, Mutter. Wo soll ich beginnen?«
»Ganz am Anfang. Ich will alles wissen.«
Er hielt inne. »Das ist lange her.«
»Ich weiß. Niemand weiß das so gut wie ich. Zehn Jahre aus einzelnen Tagen. Du hast keine Ahnung.« Eine Weile atmete sie keuchend und kam dann wieder zur Ruhe. »Als ihr noch klein wart, bin ich, wenn ihr geschlafen habt, immer in euer Zimmer geschlichen, um euch zu betrachten, um euren Atem zu hören. Du und Sarah, ihr habt im Takt geatmet.«
Quinns Gesicht verzerrte sich vor Gram. Er senkte den Kopf, damit seine Mutter die heißen Tränen nicht sah, die aus seinen Augen quollen und über seine Wangen rannen. Es war kaum zu ertragen. Er hätte nicht herkommen sollen. Er hielt sich die Hand vor den Mund, als wollte er verhindern, dass sein schaler Kummer hinausdrang. Seine Finger rochen nach Nikotin.
»Der Tag«, begann er, doch seine Worte ertranken schon bald in seinem Schmerz. Er weinte weiter, ein unwillkürlicher Vorgang, den er jetzt, wo er begonnen hatte, nicht mehr aufhalten
Weitere Kostenlose Bücher