Beraubt: Roman
konnte. »Ich bin bloß weggerannt, weil ich Angst hatte«, sagte er schluchzend. »Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich kam zu spät, um sie retten zu können. Hatte zu große Angst. Ich bin gerannt und gerannt. Mutter, ich konnte nicht mal sprechen.«
Das stimmte. In den folgenden Wochen hatten ihm die Worte wie Knochen in der Kehle gesteckt. Er war allein durchs Land gestreift, hatte sich von den Menschen ferngehalten und nur beobachtet, wie sich sein Schatten morgens vor ihm erhob und über seine ewig wandernde Gestalt glitt, bis er sich abends wieder zu ihm gesellte. Mumbil, Coolah, Curlewis – Ortsnamen, die wie die Worte für Verbrechen in unbekannten Sprachen klangen. Er redete mit keinem Menschen. Er badete in Flüssen und Stauseen und aß Gras oder Obst, das er nachts aus irgendwelchen Gärten stahl. Drei Tage lang folgten ihm zwei Wildhunde wie einem lahmen Känguru, und er schlief nachts in einem Baum. Eine karge Zeit.
Seine Mutter hustete und streckte die mit ihrem eigenen Blut besprenkelte Hand aus. »Pst. Ist ja gut. Du kannst sie nicht zurückbringen, Quinn. Es ist lange her. Sprechen wir von etwas Erfreulicherem«, sagte sie mit erzwungener Heiterkeit. »Wenigstens ist der Krieg vorbei. Wir sind zusammen hier. Das genügt fürs Erste. Warum erzählst du mir nicht, wie du hergekommen bist?«
Quinn sammelte sich und wischte seine Augen trocken. »Ich war in Sydney.«
Sie versuchte sich aufzusetzen. »Ach, wie herrlich. Da war ich schon seit Jahren nicht mehr. Der Hafen? Ist er immer noch so schön?«
»Klar. Es herrschte reger Betrieb. Auf dem Wasser waren viele Boote. Die Leute sind froh, dass der Krieg vorbei ist. Sie können zu ihrem alten Leben zurückkehren.«
»Und warst du lange dort? Was hast du da gemacht?«
Quinn schnäuzte sich und zeigte ein schüchternes Lächeln. »Ich hab versucht, eine Orange aufzutreiben.« Seine Mutter lachte. »Aber ohne Erfolg.«
»Orangen. Die hast du schon immer gemocht. Eine Zeit lang hast du dich nur davon ernährt. Aber ich habe eine ganze Weile keine mehr zu Gesicht bekommen. Ja, eine Orange wäre schön. Der Krieg, weißt du? Das bedeutete, dass es kaum was zu essen gab. Die Farmer an der Front. Wahrscheinlich gefallen.«
Sie schloss wieder die Augen. Jetzt war offenkundig, dass sie im Sterben lag. Sie hatte recht: Das halbe Land litt an dieser Grippe. In Sydney hatten die Zeitungen weitere Krankheitsausbrüche und Berge von Toten prophezeit. Als sei es nicht genug, dass die Welt einen Krieg erduldet hatte. Quinn bückte sich, um die feuchtwarme Hand seiner Mutter zu ergreifen. Sie döste, und in der verstreichenden Stille fragte er sich, was er ihr vom Krieg, von seinem Leben erzählen konnte. Plötzlich spürte er durch seine Stiefel auf dem Holzfußboden ein fernes Dröhnen. Pferdehufe. Herangaloppierende Pferde. Er richtete sich auf.
Seine Mutter murmelte irgendwas.
»Was?«, fragte Quinn.
»Welcher Tag ist heute?«
»Ich glaube, Montag.«
»Das könnte Doktor Fraser mit deinem Vater sein.«
Panische Angst wand sich durch seine Brust. Trotz seiner Schwerhörigkeit wusste er, dass die Pferde schon in der Nähe waren, vielleicht sogar vorn am Tor. Er überlegte, ob er aus dem Fenster springen und unbemerkt entwischen konnte, doch seine Mutter streckte die Hand nach ihm aus.
»Quinn. Versteck dich nebenan. In deinem alten Zimmer. Schnell. Dein Vater kommt nicht ins Haus.«
»Du sagst ihm nicht, dass ich da bin?«
»Natürlich nicht. Rasch jetzt.«
Quinn tat, was sie ihm gesagt hatte. Wie ein Eindringling stellte er sich hinter die geschlossene Tür des Zimmers, das er sich mit Sarah und William geteilt hatte. Sein Herz pochte heftig, und er bemühte sich zu hören, was gesagt wurde. Die undeutlichen Stimmen seines Vaters und Doktor Frasers. Es klopfte an der Haustür. Der rufende Arzt, seine Schritte im Flur, Quinns Mutter, die ihn begrüßte. Quinn drückte das Ohr an die Holztür, konnte aber nur Gemurmel hören, ein gequältes Husten, das Klirren von Glasfläschchen, die auf die Frisierkommode gestellt wurden. Bald darauf ging Doktor Fraser wieder nach draußen, sprach einen Augenblick mit Nathaniel und brach dann auf.
Quinn entspannte sich und sah sich im Zimmer um. Seine Mutter hatte recht: Das Zimmer war unverändert. Es war, als sei er in eine Erinnerung versetzt worden. Dieselbe angeschlagene Kommode, ein Regal mit zerfledderten Kinderbüchern und Sarahs Puppe. Alles war mit Staub bedeckt, der in Schnörkeln durchs
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