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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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Wahrscheinlich hat er das Ganze bloß geträumt, du weißt ja, wie viel Fantasie er hat. Es könnten Kaninchenjäger oder so was gewesen sein. Heutzutage streifen jede Menge Leute herum. Jedenfalls ist er gestürzt und hat sich an der Hand verletzt, deswegen konnte er wohl nicht kommen.«
    Mary sagte etwas, das Quinn nicht verstand.
    »Natürlich geht’s ihm gut. Dein Bruder hat einen Schutzengel. Aber ich sag’s ihm. Ich achte schon darauf, dass er vorbeikommt. Sorg dich nicht, Mary. Du musst mit deinen Kräften haushalten.«
    Quinn hörte, wie sein Vater die Veranda verließ, und er reckte sich, um zu beobachten, wie er auf der Straße davonritt. Als er sicher war, dass sein Vater weg war, schlich Quinn aus seinem früheren Zimmer durch den schummrigen Flur in den sonnendurchfluteten Nachmittag hinaus.
    Wie versprochen wartete Sadie auf ihn im Schatten des Blutholzbaums. Unerklärlicherweise war er froh, sie zu sehen, und musste sich beherrschen, um sie nicht zu umarmen. Gemeinsam stapften sie durch die Nachmittagshitze zu ihrer Hütte, doch erst auf halbem Weg merkte Quinn, dass sie nichts bei sich trug.
    Er blieb stehen. »Hast du nichts zu essen gefunden?«
    Die Hände in die Hüften gestemmt, blieb auch Sadie stehen. Sie schüttelte den Kopf und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie wirkte erschöpft. »Ich konnte nichts stehlen. Es waren zu viele Leute da. Morgen gehe ich noch früher los. Keine Sorge, ich weiß, was ich tue. Na los, gehen wir.«
    11 In jener Nacht lag Quinn, in seinen Mantel gehüllt, auf dem Fußboden der Hütte, seine schmalen Hände unter dem Kopf ein Kissen aus Zweigen. Draußen knarrte die kühle Nacht, und die Jahre seiner Abwesenheit kamen ihm nicht mehr ganz so lang vor. Er war hungrig. Er horchte auf Schritte, auf Stimmen, auf die Leute, die ihn an einem Baum aufknüpfen wollten. Nach einer Weile kam die Nacht zur Ruhe und wurde still. Wo auch immer das Mädchen war, sie machte kein Geräusch.
    Narde, dachte er plötzlich. War das der Name, unter dem Lavendel in der Bibel bekannt war, das Wort, das seiner Mutter bei seinem Besuch nicht einfallen wollte? Es sah ihr gar nicht ähnlich, etwas zu vergessen; eine Zeit lang war er überzeugt gewesen, dass seine Mutter alles wusste, was es zu wissen gab: die Namen aller Ehefrauen Heinrichs VIII., die Namen aller Planeten, die Daten der Französischen Revolution. Sie war in dieser Gegend, wo die Leute kaum etwas von der Welt da draußen begriffen und sich noch weniger dafür interessierten, was dort vorging, eine Kuriosität. Wenn sie gefragt wurde, wieso sie den Spruch Menschen lernen, während sie lehren auf Latein zitieren konnte oder woher sie wusste, dass der erste Generalgouverneur ein Mann namens Hope gewesen war, lächelte sie immer, tippte sich an den Kopf und sagte, sie habe als Kind mit dem Lexikon unterm Kissen geschlafen und die Informationen seien, Stichwort für Stichwort, in ihr Gehirn gesickert.
    Natürlich war das nur eine weitere abstruse Geschichte. In Wirklichkeit hatte sie sich mit neunzehn, nachdem ihre wohlhabenden Eltern auf einem Schiff nach Hongkong ums Leben gekommen waren, durch die umfangreiche Bibliothek ihres Vaters gearbeitet. Quinn konnte sich noch erinnern, wie sie ein aufgeschlagenes Wörterbuch in der Hand hielt, während sie die Wäsche zur Leine trug oder Mehl aus der Speisekammer holte. »Hört euch das mal an, Kinder«, sagte sie immer, bevor sie eine Gedichtzeile oder eine unbekannte geschichtliche Begebenheit vorlas. »Das wird dir gefallen, William. Siehst du, wie dieser Mann kopfüber an einem Kran über der Straße hängt? Siehst du das? Houdini oder so ähnlich. Großer Gott! Er befreit sich aus Ketten.« Ihre Mutter machte sie auf die Weisheit aufmerksam, die in Büchern enthalten sein konnte. »Eine Geschichte ist eine wunderbare Erfindung«, sagte sie dann. »Ein Blick in eine völlig andere Welt. Manchmal entfliehe ich ganz gern von hier.«
    Sie war am Beginn ihrer Ehe von Sydney in den Westen von New South Wales gezogen, obwohl sie lieber in der Großstadt geblieben wäre, da war es ganz natürlich, dass es ihre Fantasie an solche Orte zog. Obwohl sie nie dort gewesen war, erzählte sie den Kindern Geschichten vom regenreichen London und dem dunkel rauchenden Kairo. Sie las ihnen alles Mögliche vor – die Bibel, Zeitungen, Geschichten von den Trojanern, unverständliche Gedichte mit Worten wie Antlitz und Huld , ja sogar Werbebroschüren, die sie in Flint aufgegabelt hatte

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