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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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Licht schwebte. Unter dem Bett sah er einen Sack mit Werkzeug. Neben Sarahs niedrigem Bett stand die Zigarrenkiste auf dem Boden, in der sie ihre Schätze aufbewahrt hatte. Die Kiste übte eine seltsame Anziehungskraft aus.
    Quinn hatte sich jetzt, wo Sarah tot war, nie eine Meinung darüber gebildet, wo sich ihre Seele wohl aufhalten mochte. Auch wenn er sich den idyllischen Himmel, an den die Leute glaubten, nicht vorstellen konnte, war ihm der Gedanke, dass seine Schwester kalt und allein in ihrem verfaulten Sarg lag, noch unangenehmer. Oft hatte er die einzelnen Schritte etwa beim Knüpfen eines Knotens oder beim Überprüfen eines Segels laut aufgesagt, als wollte er ihr alles erklären. Meistens stellte er sich vor, dass sie irgendwie neben ihm war – sich das Haar zwirbelte, auf einem Zaun zu balancieren versuchte, sich herabbeugte, um ihm ein Geheimnis ins Ohr zu flüstern.
    Er hockte sich hin, nahm die Zigarrenkiste und öffnete sie: eine Briefmarke, ein Stein, der wie ein Kängurukopf geformt war, ein Stück Stacheldraht, eine unechte Perle, drei Goldkiesel, die Elsternfeder, von der seine Mutter gesprochen hatte, und ein großer roter Knopf. Er erkannte sofort, dass es einer der drei oder vier Knöpfe war, die sich Sarah von ihrer Mutter an ihre Kleider nähen ließ – auch an das weiße Kleid, das sie an ihrem Todestag trug. Entsetzt starrte er all die Sachen an, als könnten sie sich gegen ihn verbünden. Wenn er in diesem Moment hätte flüchten können, hätte er es getan.
    Er nahm den roten Knopf aus der Kiste, hielt ihn sich an die Lippen und dann an die Stirn. »Mir kam ein Traum – es war nicht ganz ein Traum«, flüsterte er. »Die schöne Sonne war verglüht; die Sterne verdunkelt kreisten in dem ewigen Raum.«
    Er warf den Knopf in die Zigarrenkiste und stellte sie mit ihren anderen Schätzen wieder dorthin, wo er sie gefunden hatte. Dann schlich er zum Fenster, von dem man auf die Veranda blickte, und achtete darauf, dass er für seinen Vater unsichtbar blieb, der, den Kopf in die Hände gestützt, auf einem Stuhl neben Marys Fenster saß. Sein Vater wirkte bestürzt, und der Schock, ihn so zu sehen, erfüllte Quinn mit tiefer Schwermut. Nathaniel war im Lauf der Jahre geschrumpft, war von der Größe her insgesamt menschlicher geworden.
    Sein Vater hob den Kopf und sprach zum offenen Fenster herein. »Der Doktor hat gesagt, dir geht’s heute besser und zugleich schlechter.«
    Marys Antwort war nicht zu verstehen.
    »Aufgewühlt«, sagte Nathaniel. »Was? … Tja, du solltest tun, was er sagt. Er ist der Arzt … Natürlich weiß er, was er tut. Mary? Trägst du die Kampferkette? Mary? Es soll wirklich helfen. Hast du die Kette wenigstens bei dir?« Er hielt inne, um zuzuhören. »In Ordnung. Ich rede nicht mehr davon, aber sorg dafür, dass du sie immer in der Nähe hast … Ich weiß, dass sie stinkt. Ich glaube, sie reinigt die Luft. Aber ich hab noch was anderes aus Sydney bestellt. Etwas Neues, das jetzt jeden Tag kommen müsste. Es heißt Hearn’s Bronchitis Cure, und es soll helfen bei …«
    Quinn sah, dass das Gesicht seines Vaters rußverschmiert war, seine Arme muskelbepackt. Ein Schnurrbart zierte seine Oberlippe. Seine Ellbogen ruhten locker auf seinen Knien, die Finger wie vor Erschöpfung oder zum Gebet ineinandergeschlungen. Hin und wieder richtete er sich auf, um sich anders hinzusetzen oder deutlicher ins offene Fenster seiner Frau zu sprechen. In den hängenden Schultern seines Vaters, im rasch wechselnden Mienenspiel seines wettergegerbten Gesichts sah Quinn etwas von der schrecklichen Geschichte ihrer Familie, so wie der Wind sichtbar ist, wenn er durch ein Weizenfeld streicht.
    Seine Eltern verstummten. Sein Vater schaute sich nervös um. Quinns Bein wurde vom langen Stillstehen allmählich steif. Nach ungefähr einer Viertelstunde stand Nathaniel auf, um zu gehen. »Hast du das Essen gesehen, das die Frauen vom Hilfsdienst gebracht haben? … Reicht dir das? … Bist du sicher? … Und du isst es auch wirklich? Du brauchst deine Kraft. Ich muss jetzt los. Ach, das hätte ich fast vergessen. Dein Bruder hat gesagt, dass er heute vorbeischaut. Dass er viel zu tun gehabt hat. Ein Waisenmädchen oben in den Hügeln, das er ausfindig machen will.« Er schlug den Hut auf seinen staubigen Schenkel und lachte. »Er hat erzählt, er hätte sie vor ein paar Tagen gesehen, aber sie – hör dir das bloß an, Mary –, er hat gesagt, sie hätte sich in eine Schlange verwandelt.

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