Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
Vom Netzwerk:
Salon in Marylebone in der Falle gesessen hatte. Mrs. Cranshaw hatte den Versammelten versichert, dass der Herr ihnen in ihren Bemühungen beistehe, hatte alle daran erinnert, ihre Töchter zu keinem Zeitpunkt anzusprechen, dann mit zittriger Stimme genau dieses Lied angestimmt und sich am Anfang jeder Strophe mit ermutigendem Lächeln von den Klaviertasten zu ihren Zuhörern umgedreht. Die Mischung aus Theatralik und Frömmigkeit war verstörend und eindringlich gewesen; als die letzten Töne verhallt waren, weinten ein oder zwei Frauen. Dann trat Mrs. Cranshaw feierlich, den Kopf gesenkt, beiseite, verschwand im Schatten und ließ die drei Mädchen am Tisch zurück. Eine Schulter und dann die Straußenfeder eines Damenhuts versperrten Quinn kurz den Blick. Ein junger Mann raunte seinem Begleiter etwas zu. Fletcher ließ die Hände am Körper herabhängen und hatte ein hoffnungsvolles Licht in den Augen. Das Zimmer sirrte vor Erwartung.
    Die drei Mädchen hatten die Hände flach auf den Tisch gelegt und saßen mit geschlossenen Augen da. Quinn schätzte, dass sie etwa vierzehn Jahre alt waren. Jede trug ein weißes Kleid und hatte das Haar mit Bändern zurückgebunden. Ihre Gesichter waren so blass wie kleine Monde auf ihren zarten Hälsen. Quinn trat von einem Fuß auf den anderen. Draußen fuhr eine Kutsche vorbei. Wenn er und Fletcher wieder aufbrächen, würde es schon dunkel sein. Der feuchte Waschlappen des Abends würde sich bereits über die Straßen Londons legen, und plötzlich sehnte sich Quinn nach Australien, wo das Licht klar und voll war, ohne Ränder oder Erbarmen.
    Plötzlich richtete sich eins der blonden Mädchen mit einem Ruck auf, und ihre Lippen bewegten sich. Dann zuckte ihr ganzer Körper. Ihre Lider zitterten, und die Augen noch immer geschlossen, kritzelte sie mit einem Bleistift etwas auf das Papier. Ihre blonde Schwester gab ein leises Brummen von sich und folgte ihrem Beispiel. Keine von beiden achtete darauf, was sie tat. Das erste Mädchen ließ den Kopf auf den Schultern hin und her schaukeln, als würde er von unsichtbaren Händen bewegt.
    Trotz Quinns Skepsis jagte ihm die ganze Szene – mit den flackernden Lampen und den summenden Mädchen, dem scharfen Gestank des Tabakrauchs – schreckliche Angst ein. Er spürte Schweißperlen auf seiner Haut. Das letzte Mädchen, die Rothaarige, saß einfach da, und allmählich verblasste das Zimmer – die Vorhänge, das Mobiliar, die Bücherregale –, bis es den Anschein hatte, als wären nur noch sie und Quinn übrig. Sie hatte die Augen geschlossen und das Gesicht katzenhaft nach oben gerichtet, als würde das, was sie herauszufinden hoffte, durch ihre Nasenlöcher kommen. Ihre Haut war von einem inneren Licht erleuchtet. Nach ein paar Minuten schlug sie die Augen auf, und ihr Blick richtete sich auf Quinn, als hätte sie schon die ganze Zeit sein Gesicht gesucht.
    Sie starrte Quinn so lange an, dass die Leute ihn tuschelnd anzuschauen begannen, als wäre er der Initiator ihres stummen Blickwechsels. Schließlich beugte sich das Mädchen über den Tisch und begann zu schreiben, wobei sie alle paar Sekunden innehielt, als würde sie irgendwelchen Anweisungen lauschen. Eine schlaffe rote Locke fiel ihr vor das Gesicht, doch sie streifte sie nicht beiseite. Ihr Mund spitzte sich und zuckte.
    Nach einer Viertelstunde hörten die Mädchen auf zu stöhnen und verfielen, das Kinn auf die Brust gesunken, in völlige Reglosigkeit. Das Publikum sah in verzücktem Schweigen zu, als sich Mrs. Cranshaw aus dem Schatten löste, ein Mädchen nach dem anderen weckte und sie mit mütterlichen Lauten davonführte. Quinn wusste nicht genau, was er gerade erlebt hatte, doch plötzlich brandete Beifall auf, der sich dann in Getuschel und Staunensrufe verwandelte. »Sonderbar«, raunte eine Frau, die in der Nähe stand. »Meine Güte«, sagte eine andere. »Haben Sie den Blick der beiden gesehen?«
    Als Mrs. Cranshaw mit einigen Papierfetzen zurückkehrte, die sie offenbar von den Rollen abgerissen hatte, auf denen die Mädchen geschrieben hatten, erhob sich ein Stimmengewirr. Sie rief die Namen auf, die dort aufgekritzelt waren: »Mr. Wright? Eine Botschaft für Mr. Wright. Danke, Sir, das macht zehn Shilling. Kennt jemand Emily … Masters, nicht wahr? Pasters? Marsden? Ein Kind, glaube ich. Die … Mutter vielleicht? Eine Tante? Nein? Aaah, Miss Wilcox. Schön, dass Sie diese Woche kommen konnten. Ich weiß, es hat wirklich ununterbrochen geregnet, oder?

Weitere Kostenlose Bücher