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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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zerbrochenen Dielen ausgehoben hatte.
    Er verspürte immer noch Angst vor dieser geheimnisvollen Göre, dieser Sadie Fox, auf eine Art, die er nicht erklären konnte. Mitten in der Nacht hörte er sie Selbstgespräche führen, beten, Satzfetzen flüstern, die sie im Gottesdienst aufgeschnappt hatte. Gott lass ruhn in deiner Hand. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal. Der Herr ist mein Hirte . Manchmal hob er das zerbrochene Dielenbrett an und beobachtete, wie sie inmitten der Kleiderfetzen, Apfelgehäuse und Hühnerknochen schlief. Er sah, wie ihre Stirn zuckte und ihre Zehen sich bogen, die Morsezeichen ihres Traumes, die über ihren Körper tanzten.
    Doch auch sie beobachtete ihn. Wenn er nachts die Augen aufschlug, sah er sie manchmal dasitzen: zuerst nur zwei große, milchige Perlen, die in der Dunkelheit schimmerten, und dann, je nach der Größe des Mondes, vielleicht die Umrisse ihres Kinns oder den matten Glanz ihres Haars, das Funkeln ihres Messers. Beim ersten Mal hatten sie sich schweigend betrachtet, Quinn auf seiner Seite des Zimmers, sie koboldhaft neben der Tür, die Arme um die Knie geschlungen. Obwohl sie vermutlich wusste, dass er wach war, gestanden sie sich das weder in diesem Augenblick noch am nächsten Tag gegenseitig ein.
    Nach mehreren solcher Nächte schlich sie allmählich immer weiter ins Zimmer, bis sie so nah war, dass Quinn den scharfen Geruch ihrer ungewaschenen Haut wahrnahm. Als er eines Morgens erwachte, spürte er, dass sie sich an seinen Körper geschmiegt hatte, ihr schweißnasses Haar kitzelnd an seinem Hals, ihr Herz heftig und schnell neben seinem eigenen pochend. Ohne darüber zu sprechen, begannen sie jede Nacht in dieser Stellung zu schlafen.
    Die Sommertage schleppten sich träge dahin. Quinn und Sadie verfielen in ein Schauspiel der Häuslichkeit: Sie räumten die Hütte auf, plauderten über die Bewohner von Flint, teilten sich ihre Mahlzeiten, verdösten die langen Nachmittage, einer ihrer schmalen Arme um seine Brust geschlungen. Tag und Nacht wogte die betäubende Hitze durch die baufällige Hütte.
    Das Kreuz, das sich Quinn auf Sadies Geheiß in die Brust geritzt hatte, begann zuzuheilen, doch an seinem gesamten Körper – besonders am Rumpf und an den Armen – tauchten plötzlich weitere Wunden auf, eine Stacheldrahtgalaxie dunkler Planeten und Sterne, winziger Monde, die über seine blasse Haut zogen. Manche waren tief und schmerzhaft, andere bloß oberflächlich. Er konnte sich nicht erinnern, sich diese Wunden selbst zugefügt zu haben. Wenn er morgens erwachte, entdeckte er oft ein, zwei weitere Schnitte. Vielleicht war es Sadie gewesen, während er schlief. Wer wusste schon, wozu dieses Mädchen fähig war? Falls sie ihr auffielen, wenn sie badeten oder schliefen, so sagte sie es nicht. Morgens betrachtete er die Wunden und versuchte herauszufinden, welche ganz frisch waren. Für die Besuche bei seiner Mutter rollte er die Ärmel herunter, spürte aber stets einen schwachen Schmerz.
    Manchmal schwammen er und Sadie in einem nahegelegenen Bach, wuschen danach ihre Kleidung und ließen sie auf Felsen oder über Zweigen trocknen. Quinns Bart juckte beim Wachsen. Nachts, wenn im Haus und dem umliegenden Buschland alles still war, hörte er, wie die Barthaare mit einem Geräusch durch seine Wangen drangen, das klang, als würden unzählige Nägel aus einem Holzbrett gezogen. Als er sich in einer Spiegelscherbe betrachtete, war er überrascht, in seinen Stoppeln graue Sprenkel zu sehen, als wäre es der Bart eines älteren Mannes, den man seinem jugendlicheren Gesicht aufgepfropft hatte. Geistesabwesend strich er über dieses neue Gesicht, was ihm eine seltsame Freude bereitete.
    Manchmal verschwand Sadie stundenlang, und dann ging er in dem verfallenen Haus auf und ab oder setzte sich einsam und verlassen mit dem Rücken an die zerbröckelnde Wand und horchte, horchte bloß, versuchte, das Vogelgezwitscher und das raschelnde Laub zu durchdringen, bemühte sich, ein Zeichen ihrer Rückkehr zu hören. Mehrmals versuchte er, ihr zu folgen, war jedoch nie imstande, mit ihr Schritt zu halten, und jedes Mal, wenn sie verschwand, hatte er Angst, sie sei für immer gegangen. Er machte sich Sorgen, dass ihr etwas passiert sein könnte, und mit jeder verstreichenden Stunde stieg die Gewissheit, dass ihr ein Unglück zugestoßen war: Sie war in einen Grubenschacht gerutscht, von seinem Onkel erwischt worden, von einer Schlange gebissen.
    Doch egal, wie reglos er auch

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