Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
Vom Netzwerk:
hier, auf einem Hügel am Ende der Welt, hielt er sich die Muschel an die Nase und atmete ein. Erst mal nichts, nur der Schweiß und der Eukalyptusgeruch seiner Hand, doch schon bald nahm er andere Düfte wahr, die sich in den winzigen Windungen verbargen – das Meer, schwefelhaltige Winde, sogar der starke Geruch von Seetang. Allein die Anwesenheit der Muschel – so weit entfernt von dem Strand, an dem sie aufgesammelt worden sein musste – rührte ihn über alle Maßen. Heiße Tränen rannen seine Wange hinab. Was sollte er jetzt bloß tun? Wohin konnte er sich wenden?
    So kauerte er eine Weile, weinend, gekrümmt, als trüge er eine schwere Last. Was wollte er hier? Warum war er überhaupt zurückgekehrt? Ringsum drehte sich die Welt weiter, zog stetig ihre Bahn. Er sah kurz vor sich, wie andere ihn sehen mochten – ein jämmerlicher Kerl, kaum besser als ein Bettler, auf einem Friedhof, jemand, der sich fürchtete zu gehen und sich fürchtete zu bleiben.
    Plötzlich eine weitere Kriegserinnerung: wie er in einer ansonsten friedlichen Nacht einen Schuss gehört hatte und am nächsten Tag erfuhr, dass ein Soldat es irgendwie fertiggebracht hatte, den Gewehrlauf in den Mund zu schieben und mit dem Zeh den Abzug zu betätigen. Wie er und ein paar andere mit den Schultern gezuckt hatten, nicht nur wegen der gemischten Gefühle angesichts eines weiteren Kriegstoten, sondern auch weil sie ihn verstanden hatten. Warum nicht?, lautete der unausgesprochene Gedanke. Was zum Teufel sprach eigentlich dagegen?
    Er trocknete sich die Augen. Plötzlich hörte er trotz seiner Schwerhörigkeit das unverkennbare Rascheln von jemandem, der hinter ihm durchs Gras ging. Er richtete sich auf und war entsetzt, seinen Onkel zu sehen, der mit vor Anstrengung verzogenem Gesicht zwischen den Grabsteinen hindurchstapfte. Quinn sog den Atem ein. Sein Körper wurde von Angst überflutet. Der Mörder . Mit Bestürzung fiel ihm ein, dass der gestohlene sechsschüssige Webley, den er in die Tasche seines Regenmantels gesteckt hatte, auf dem Fußboden der Hütte lag.
    23 Robert Dalton war blond und breitbrüstig und hatte eine kantige Stirn, die in der Spätnachmittagssonne rosig glänzte. Etwa vier Meter von Quinn entfernt blieb er stehen, die Hand auf der kaputten Steinschulter eines säuglinggroßen Engels. Sein Onkel schwitzte stark, die Augen wegen des grellen Lichts fest zusammengekniffen. Er öffnete einige Goldknöpfe seiner blauen Polizeiuniform und lockerte mühsam den Kragen, woraufhin an seiner Kehle der ausgefranste Rand eines Unterhemds zum Vorschein kam. Sein Polizeifahrrad lehnte hinter ihm an einem Grabstein. Seit Quinn ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er um die Taille runder geworden; er musste inzwischen etwa fünfundfünfzig Jahre alt sein. Trotz der Uniform und der inzwischen verstrichenen Jahre war er noch derselbe Mensch, der Quinn immer fest in den Arm gekniffen und ihn verspottet hatte, wenn er sich darüber beklagte. Du könntest es deiner Mutter erzählen, aber sie würde dir niemals glauben .
    Quinn wäre am liebsten davongelaufen, wusste aber, dass das einem Schuldeingeständnis gleichkam. Sein Onkel trat näher.
    »Na«, sagte Robert, als er wieder zu Atem gekommen war, »wen haben wir denn da?« Mit schwachem, salbungsvollem Lächeln musterte er Quinn.
    Quinn merkte, dass es keine rhetorische Frage war. Er senkte den Blick. Eine Glattechse huschte über seinen Stiefel und verschwand unter einem Stein, das hätte er in diesem Augenblick auch gern getan. Ihm schoss das Blut in die Brust, und er dachte, dass Sarah ein paar Meter entfernt in der kühlen Dunkelheit unter der Erde lag und ihrem Wortwechsel lauschte. »Ich ruhe mich hier im Schatten aus. Bin auf der Durchreise.«
    Robert strich mit dem Ärmel über seine schweißnasse Stirn, beugte sich dann vor und presste zwischen den geschürzten Lippen einen Spuckepfropfen hervor, der zischend auf einem Stein landete. Er war eindeutig betrunken. »Ungewöhnlicher Ort, um sich auszuruhen, würde ich sagen. Sie sind wohl versessen auf Friedhöfe, was?«
    Wenigstens hatte ihn sein Onkel nicht wiedererkannt. Quinn trat einen Schritt zurück. »Na ja, es ist friedlich hier.«
    »Das stimmt. Kein Ton zu hören. Tote reden nicht mehr, hm?«
    Quinn merkte, wie der Blick seines Onkels kurz auf Sarahs Grabstein fiel. Er sah auch, dass Roberts linkes Handgelenk bandagiert war, und erinnerte sich, wie sein Vater gesagt hatte, Robert sei an dem Tag vor zwei Wochen bei der

Weitere Kostenlose Bücher