Bereue - Psychothriller (German Edition)
Wänden und Scheiben, um an einem bekannten Spruch hängen zu bleiben: Und ich sah und siehe ein fahles Pferd. Und der darauf saß dessen Name war Tod. Und die Hölle folgte ihm nach. Der vierte apokalyptische Reiter aus der Offenbarung des Johannes. Das musste ein Zeichen sein. Ein Zeichen, dass er auf dem richtigen Weg war. Lautlos betete er und schloss mit einem gemurmelten “Amen”.
Zwei Stationen weiter stieg er aus. Auf den paar hundert Metern von der Trambahn zum Café kaufte er eine Tageszeitung und zwang sich, keinen Blick auf die Titelseite zu werfen. Das wollte er sich aufheben. Wenn gestern der Papst nicht zum Islam konvertiert war, musste Ben Billers Untergang die Topstory des regionalen Blattes sein.
Seine Finger klebten am Papier, als er um zehn vor neun die Glastür des Café Alternativ aufschob. Die grellen Farben der Einrichtung schmerzten ihm heute nicht mehr so arg in den Augen. Der Betreiber hatte sich Mühe gegeben, original sechziger Jahre Möbel aufzutreiben. Die Plastikstühle mit den unergonomisch geschwungenen Lehnen an den Tischen rechts der Tür waren grellrot, die auf der anderen Seite apfelgrün. Die Theke war in Orange gehalten. Den anwesenden Gästen verdarb das nicht den Appetit.
Ein paar Anzugträger konsumierten ihr Frühstück neben einer Handvoll Studenten und Arbeitsloser. An der Theke hingen neben einem Yuppie zwei undefinierbare Gestalten und hielten sich an ihren Biergläsern fest.
Hinter dem Tresen, das Gesicht der Durchreiche zur Küche zugewandt, sah er einen schmalen Rücken, auf dem zwei schwarze geflochtene Zöpfe ruhten. Zwischen dem Saum ihres schwarzen T-Shirts und dem Haaransatz schimmerte Haut so weiß wie Schnee. Annelie war da.
Ein ungewollt warmes Gefühl durchströmte ihn. Seine Finger schnellten zwischen seine Haare und verkrallten sich in die Kopfhaut. Schmerz schoss durch seinen Kopf. Das Gefühl ließ nach. Gott sei Dank.
Mit Blick zur Tür und zum Tresen setzte er sich auf einen der grünen Stühle und breitete die Zeitung vor sich aus. Ben Biller starrte ihm von der Titelseite entgegen. Sie hatten eines der Bilder verwendet, die er an die Redaktion geschickt hatte. Auf mindestens dreihundert Quadratzentimeter hatten sie seine Visage hochgezoomt. Jedes Detail war zu erkennen. Der leere Blick aus rot geränderten Augen, die schwarzen Schatten darunter, der verzerrte Mund.
Er war gespannt, ob Annelie darauf reagierte. Und wenn, wie. Unter dem Rand der Baseballkappe lugte er zu ihr hinüber.
Sie stand noch immer an der Durchreiche und diskutierte mit jemandem. Sie warf die Hände in die Luft und zischte ihrem Gesprächspartner etwas zu. Ruckartig drehte sie sich um und stellte einen Teller scheppernd vor einem der Typen am Tresen ab. Eine schwarze Augenbraue gehoben musterte sie den Gastraum. Ihr Blick streifte ihn, fixierte sein Gesicht für einen Moment und glitt weiter. Wie die beiden Male zuvor erkannte sie ihn auch heute nicht.
Widerwillig registrierte er den Stich in seiner Brust wie von einem glühenden Messer, den ihre neutrale Reaktion auch diesmal in ihn auslöste.
Ihm war bewusst, dass er sich verändert hatte in den letzten zwanzig Jahren. Den dicken Jungen mit dem Pickelgesicht gab es nicht mehr. In demselben Maße, in dem seine Mutter zugenommen hatte, war er dünner geworden. Ganz so, als ob sie ihn ausgesaugt hätte.
Annelie dagegen sah fast noch genauso aus wie früher, aber nur fast. Ihre Figur war die einer schlanken Frau, nicht mehr die eines unreifen Teenagers. Ein paar Fältchen zierten ihre Augenwinkel, ihr Lächeln war nicht mehr so unschuldig strahlend. Als er das letzte Mal mit ihr geredet hatte, wollte sie Ärztin werden. Da waren sie in der neunten Klasse gewesen. Wie mochte es ihr ergangen sein in all den Jahren.
Sie kam auf ihn zu, kramte im Gehen aus ihrer Bauchtasche Bestellblock und Kugelschreiber. Die Zöpfe rutschten über ihre Schultern auf ihre Brust. Sie warf sie zurück und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.
Was für eine wunderbare Laune der Natur Annelies Äußeres doch war. Schneeweiße Haut, Haare schwarz wie Ebenholz, Augen wie Onyx. Und diese rosig überhauchten Wangen, die rot aufglühten, wenn sie nervös war oder sich aufregte.
15
Die Sonne schien durch die breite Fensterfront herein und tauchte die Einrichtung des Cafés in ihr mildes Morgenlicht. Annelie Winterberg versuchte, der Frühschicht etwas Positives abzugewinnen. Sie spürte, dass ihre Wangen glühten. Warum ließ sich
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