Bereue - Psychothriller (German Edition)
die Klasse ging. Immer wieder sah sie ihn, auf dem Gang zwischen den Stunden, in der Pause. Er beachtete sie nicht.
In den nächsten Tagen sorgte sie dafür, dass sie immer wieder mit Richard zusammenstand und redete. Als er sie fragte, ob sie gemeinsam lernen wollten, sagte sie ja. An diesem Tag ging sie mit Richard nach Hause. Staunend stand sie vor dem riesigen Anwesen. Sie traute sich kaum, die edlen Böden zu betreten oder etwas zu berühren. Ehrfürchtig folgte sie Richard nach oben. Im ganzen Haus war es still wie in einem Museum. “Meine Eltern sind nicht da, nur mein Bruder”, beruhigte Richard sie, als er ihre Verunsicherung bemerkte.
Ben war da. In ihrem Bauch summte ein Bienenschwarm. Sie legten sich bäuchlings auf Richards Bett und fragten sich die Latein-Vokabeln ab. Nun war sie schon über eine Stunde hier. Sie überlegte, ob sie nicht gehen sollte. Wie gemein, Richard zu benutzen.
In dem Moment hörte sie Schritte auf dem Gang. Sie blickte auf. Ben stand an der offenen Zimmertüre und sah ihr in die Augen. Sie wollte etwas sagen, ‘Hallo’ oder irgendetwas, doch es kam kein Ton aus ihrem Mund. Auch er sagte kein Wort und verschwand. So schnell es ging, verabschiedete sie sich von Richard und radelte nach Hause. Ein tiefer Schmerz in ihrer Brust bahnte sich seinen Weg nach oben und fand hinaus in Form eines Schluchzens. Er hatte offensichtlich kein Interesse an ihr.
Wie weh diese Erkenntnis tat. Jedes Mal, wenn sie in den nächsten Tagen seine große dunkle Gestalt erahnte, sah sie schnell in eine andere Richtung.
Auch wollte sie sich von Richard zurückziehen, doch er hatte sich anscheinend in sie verknallt. Auf seine schüchterne Art war er ständig um sie herum und sie wusste einfach nicht, wie sie ihm klarmachen sollte, dass sie von ihm nichts wollte. Warum nur hatte sich der falsche Biller in sie verliebt. Ben war einer jener Menschen, die nur einen Raum betreten mussten und alle Anwesenden unterbrachen ihre Gespräche. Er hatte dieses Charisma, das man nicht lernen konnte. Warum sollte er sich ausgerechnet für sie interessieren, wo doch so viele Mädchen um herumschwirrten.
Dann kam das Sommerfest der Schule. Sie überlegte hin und her, ob sie hingehen sollte. Melanie, ihre beste Freundin, nervte sie so lange, bis sie zusagte. Natürlich war Ben auch da. Er stand mit anderen Jungs aus seinem Jahrgang zusammen und redete und lachte. Bewusst drehte sie ihm den Rücken zu. Ihn womöglich mit einem anderen Mädchen flirten zu sehen könnte sie nicht ertragen. So stand sie mit einem alkoholfreien Cocktail in der Hand bei ein paar Mädchen und tat so, als ob sie sich amüsieren würde. Doch irgendwann hielt sie die gute Laune der anderen nicht mehr aus. Ihr Gesicht schmerzte vom falschen Lächeln. Sie ging auf den Pausenhof hinaus. Die Musik drang gedämpft zu ihr nach draußen, mischte sich dem Zirpen der Grillen. Ihr Vater würde sie erst in zwei Stunden abholen. Alleine mit ihren trüben Gedanken setzte sie sich auf eine Schaukel und beobachtete die Sterne. Eine Sternschnuppe flitzte über den Himmel. Es gab nur einen Wunsch für sie. Wie kindisch.
Sie hörte nicht, dass sich jemand näherte, so sehr war sie in ihre Gedanken versunken.
“Hi”, sagte eine tiefe warme Stimme.
Erschrocken bremste sie die Schaukel und starrte ihren Besucher an. Es war Ben. Sein weißes Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln leuchtete in der Dunkelheit, kontrastierte mit seiner schwarzen Jeans. Eine Locke fiel ihm in die Stirn. Er sah so wahnsinnig gut aus. Und er war alleine, hier bei ihr und er sprach sie an. In ihrem Kopf klappte ein Schalter um auf Notbetrieb. Anders konnte sie sich nicht erklären, warum ihre Stimme so ruhig klang. “Die Nacht ist so wunderbar klar. Kennst du die Sternbilder?” Was laberte sie da für einen Quatsch?
Er lachte sie nicht aus. “Das ist der Orion. Und dort der Große Wagen. Und das dort drüben ist das Sternbild der Fische.”
Wie von einer Schnur gezogen stand sie auf und ging auf ihn zu. Ihr Blick folgte seinem Finger. “Das ist mein Sternzeichen. Und welches ist deins?” Seine Nähe zu spüren ließ ihre Haut kribbeln und ihr Herz hämmern.
“Krebs. Das Sternbild sieht man heute nicht”, sagte er ohne den Blick vom Himmel zu wenden.
Sie musterte sein Profil, vorsichtig, um schnell wieder wegsehen zu können, wenn er es merkte. “Krebse sind sensibel, zu großer Freude und tiefer Liebe fähig, aber auch zu großem Leid. Sie ziehen sich gerne in ihren
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