Berg der Legenden
hatte George auf seinem Platz in der ersten Bankreihe diese Vorstellung im Stillen oft verspottet. Was ihm indes entging, war das Aufleuchten in ihren Augen, sobald sie ihn erblickte. Als Guy sie fragte, ob sie in George verliebt sei, sagte sie nur: »Ist das nicht jeder?«
Doch wann immer Guy mit seinem Freund versuchte darüber zu sprechen, erwiderte George, dass er in Cottie nicht mehr sähe als eine Freundin.
***
»Was hälst du von George Finch?«, fragte Cottie eines Tages, als sie sich zum Mittagessen auf einem Felsen niederließen.
»Warum fragst du?«, sagte George und wickelte sein Sandwich aus dem Pergamentpapier.
»Mein Vater hat mir einmal erklärt, dass vermutlich nur Politiker eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten.«
George lächelte. »Ich gebe zu, dass Finch ein verdammt guter Bergsteiger ist, aber man kann seiner leicht überdrüssig werden, wenn man den ganzen Tag mit ihm verbringen muss.«
»Bei mir reichen schon zehn Minuten«, sagte Cottie.
»Wie meinst du das?«, fragte George und zündete seine Pfeife an.
»Sobald die anderen außer Sichtweite sind, versucht er mich zu küssen.«
»Vielleicht ist er in dich verliebt«, sagte George in dem Versuch, das Ganze herunterzuspielen.
»Das glaube ich nicht, George«, sagte sie. »Ich bin nicht gerade sein Typ.«
»Aber er muss dich doch anziehend finden, wenn er dich küssen möchte?«
»Nur, weil ich das einzige Mädchen im Umkreis von fünfzehn Meilen bin.«
»Dreißig, meine Liebe«, sagte George lachend und klopfte seine Pfeife am Felsen aus. »Wie ich sehe, ist unser hochgeschätzter Anführer wieder zum Aufbruch bereit«, fügte er hinzu und half Cottie beim Aufstehen.
George war enttäuscht, als Young die Gruppe nicht den recht interessant aussehenden Abstieg vom Lliwedd nehmen ließ, der über eine senkrechte Felswand nach unten führte. Als sie die tiefer gelegene Flanke erreicht hatten, stellte er zu seinem Ärger fest, dass er seine Pfeife liegen gelassen hatte und zum Gipfel zurückkehren musste, um sie zu holen. Cottie willigte ein, ihn zu begleiten, doch als sie den Fuß des Felsens erreichten, bat George sie zu warten, da er keine Lust hatte, die lange Route um das riesige Hindernis herum zu nehmen.
Voll Staunen sah sie zu, wie er geradewegs die glatte Felswand erklomm, ohne ein Zeichen der Furcht zu zeigen. Oben angekommen, schnappte er sich seine Pfeife, steckte sie in seine Tasche und kehrte auf demselben Weg wieder zurück.
Beim Abendessen erzählte Cottie dem Rest der Gesellschaft, was sie an diesem Nachmittag gesehen hatte. Den ungläubigen Blicken nach zu urteilen, schenkte ihr niemand Glauben. George Finch brach gar in Gelächter aus und flüsterte Geoffrey Young zu: »Sie hält ihn für Sir Galahad.«
Young lachte nicht. Er begann sich zu fragen, ob George Mallory nicht die ideale Person war, um mit ihm zusammen eine Besteigung zu wagen, die selbst die Royal Geographical Society für unmöglich hielt.
***
Einen Monat später lud Young sieben Bergsteiger schriftlich ein, sich seiner Tour durch die italienischen Alpen während der Sommerferien anzuschließen. Er stellte klar, dass er diejenigen, die den Montblanc vom Courmayeur-Tal aus bezwingen sollten, erst auswählen würde, wenn er gesehen hatte, wer von ihnen am besten mit den gefährlichen Bedingungen zurechtkäme.
Guy Bullock und Cottie Sanders erhielten keine Einladungen, da Young glaubte, dass ihre Anwesenheit die anderen nur ablenken würde.
»Ablenkungen«, verkündete er, als die Gesellschaft sich in Southampton versammelte, »sind völlig in Ordnung, wenn man ein Wochenende in Wales verbringt, aber nicht, wenn man in Courmayeur ist und versucht, einen der heimtückischsten Berge Europas zu besteigen.«
11
Samstag, 14. Juli 1906
Nächtlichen Einbrechern gleich, mit der Beute unter den Armen, schlüpften die beiden Männer unbemerkt aus dem Hotel. Schweigend überquerten sie die unbeleuchtete Straße und verschwanden im Wald. Sie wussten, dass es einige Zeit dauern würde, ehe ihre Kollegen sie vermissen würden, die sich wahrscheinlich gerade für das Abendessen umkleideten.
Die ersten Tage waren gut gelaufen. Am Freitag hatten sie in Courmayeur ihr Lager aufgeschlagen und festgestellt, dass das Wetter zum Klettern geradezu perfekt war. Eine Woche später, mit dem Aiguille du Chardonnet, dem Grépon und dem Mont Maudit »im Sack«, um einen von Geoffrey Youngs Lieblingsausdrücken zu benutzen, waren sie alle bereit für die letzte
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