Berg der Legenden
abzureißen, und wesentlich länger damit, sie alle in der Toilette herunterzuspülen. Sobald die letzte Schlagzeile verschwunden war, sperrte er die Tür auf und trat hinaus in den Gang. Auf dem Weg zum Speisewagen warf er vor jedem Abteil eine Ausgabe der Zeitung auf den Boden.
***
»Aber, Sir, ich kann erklären, wie es dazu kam«, protestierte George, als die Zielkugel vom Tisch sprang und über den Boden rollte.
»Noch ein Foul«, sagte Turner, hob die Kugel auf und legte sie zurück auf den Filz. »Ich verlange keine Erklärung, Mallory, aber wie sind Ihre Aussichten?«
»Wie Sie wissen, Sir, gehöre ich zum Lehrpersonal von Charterhouse, wo mein momentanes Salär dreihundertfünfundsiebzig Pfund im Jahr beträgt.«
»Das ist auf keinen Fall ausreichend, um einer meiner Töchter den gewohnten Lebensstil zu bieten«, sagte Turner. »Verfügen Sie zufällig über private Einkünfte?«
»Nein, Sir. Mein Vater ist Gemeindepfarrer und musste vier Kinder großziehen.«
»Dann werde ich Ruth ein jährliche Rente von siebenhundertfünfzig Pfund aussetzen und ihr zur Hochzeit ein Haus schenken. Sollte es Nachkommen geben, werde ich für ihre Ausbildung aufkommen.«
»Ich könnte niemals ein Mädchen heiraten, das über Privateinkünfte verfügt«, sagte George stolz.
»Sie könnten Ruth nicht heiraten, wenn sie keine Einkünfte hat«, erwiderte Turner, während er die roten Kugel erfolgreich karambolierte.
***
George saß allein am Tisch, nippte an seinem Kaffee und wartete auf Ruth. Schlief da wirklich eine wunderschöne Frau im Abteil B 11, oder würde er jeden Moment aus seinem Traum erwachen und sich in einem italienischen Gefängnis wiederfinden, ohne einen Mr Irving, der zu seiner Rettung herbeieilte?
Mehrere andere Passagiere waren erschienen und ließen sich ihr Frühstück schmecken, doch keiner der Kellner konnte ihnen erklären, warum bei ihren Morgenzeitungen die Titelseite fehlte. Als Ruth den Speisewagen betrat, hatte George nur einen Gedanken: Mit dieser Frau werde ich von nun an für den Rest meines Lebens jeden Morgen frühstücken.
»Guten Morgen, Mrs Mallory«, sagte er, als er sich erhob und sie in die Arme schloss. »Bekommen Sie langsam eine Ahnung davon, wie sehr ich Sie liebe?«, fügte er hinzu, ehe er sie küsste.
Ruth errötete, als einige der älteren Passagiere sie missbilligend ansahen.
»Vielleicht sollten wir uns nicht in der Öffentlichkeit küssen, George.«
»Gestern hast du mich noch bereitwillig vor den Augen eines Polizisten geküsst«, erinnerte George sie, als er wieder Platz nahm.
»Aber nur, weil ich ihn davon abhalten wollte, dich zu verhaften.«
Der Kellner kam an ihren Tisch und lächelte liebenswürdig. Schließlich war man im Orient Express an Paare in den Flitterwochen gewöhnt.
Nachdem die beiden ihre Bestellungen für das Frühstück aufgegeben hatten, schob George die Morgenzeitung mit der Titelseite über den Tisch.
»Nettes Foto, Mr Mallory«, flüsterte Ruth, nachdem sie die Überschrift gelesen hatte. »Und als sei es für eine junge Frau nicht schon schlimm genug, bei ihrem ersten Treffen kompromittiert zu werden, scheine ich nun auch noch einen Flüchtling zu beherbergen. Mein Vater wird also als Erstes wissen wollen, ob Sie ehrenwerte Absichten hegen. Oder kann ich lediglich darauf hoffen, das Liebchen eines Kriminellen zu werden?«
»Ich bin überrascht, dass Sie überhaupt fragen müssen, Mrs Mallory.«
»Nur, weil mein Vater mir erzählte, Sie hätten bereits eine Geliebte, die in luftiger Höhe Hof hält.«
»Ihr Vater irrt sich nicht, und ich habe ihm erklärt, dass ich seit dem Erreichen der Volljährigkeit der fraglichen Dame versprochen bin, und dass mehrere Personen diese Verlobung bereits bezeugt haben. In Tibet nennt man so etwas eine arrangierte Ehe – keiner der beiden Partner sieht den anderen vor dem Hochzeitstag.«
»Dann müssen Sie dieses kleine Flittchen so schnell wie möglich besuchen«, sagte Ruth, »und ihr unmissverständlich klarmachen, dass Sie anderweitig vergeben sind.«
»Ich fürchte, so klein ist sie nicht«, grinste George. »Aber sobald die diplomatischen Feinheiten geklärt sind, hoffe ich, ihr Anfang nächsten Jahres einen Besuch abstatten zu können. Bei der Gelegenheit werde ich ihr erklären, warum wir uns nicht länger sehen können.«
»Keine Frau will so etwas hören«, sagte Ruth und klang zum ersten Mal ernst. »Du kannst ihr sagen, dass ich einem Kompromiss zustimme.«
George lächelte.
Weitere Kostenlose Bücher