Berg der Legenden
in der Schule einnehmen müsste. Er debattierte sogar endlos mit Andrew O’Sullivan darüber, der keinerlei Zweifel hegte, dass sie genau das Richtige taten, indem sie auf ihren Posten blieben. Mr Fletcher war sogar noch unnachgiebiger und sagte, dass er es sich nicht leisten könne, jemanden mit Georges Erfahrung zu verlieren.
Wann immer er das Thema in Ruths Gegenwart zur Sprache brachte, ließ sie ihn in keinerlei Zweifel über ihre Empfindungen. Schließlich gerieten sie darüber zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit in Streit.
George fiel es zunehmend schwerer, nachts Schlaf zu finden, solange er sich mit Gewissensbissen plagte, und Ruth lag häufig ebenfalls wach, wissend, in welch einem Dilemma er sich befand.
»Bist du noch wach, Liebling?«, flüsterte sie eines Nachts.
Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste zärtlich ihre Lippen, ehe er den Arm um sie legte, damit sie den Kopf an seine Schulter lehnen konnte.
»Ich denke über unsere Zukunft nach«, sagte George.
»Langweilen Sie sich bereits mit mir, Mr Mallory?«, neckte sie. »Ich darf gar nicht daran denken, dass wir erst seit ein paar Monaten verheiratet sind.«
»Ich habe vielmehr Angst, dich zu verlieren«, sagte George leise. Er spürte, wie ihr Körper sich versteifte. »Niemand weiß besser als du, Liebes, wie schuldig ich mich fühle, weil ich nicht bei meinen Freunden in Frankreich bin.«
»Hat irgendeiner deiner Freunde irgendetwas gesagt, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen?«, fragte sie.
»Nein, niemand«, gab George zu. »Was umso vielsagender ist.«
»Aber sie wissen, dass du deinem Land auf andere Weise dienst.«
»Niemand, Liebes, kann sich von seinem Gewissen losmachen.«
»Wenn du getötet würdest, was wäre damit erreicht?«
»Nichts, außer dass du wüsstest, dass ich ehrenhaft gestorben bin.«
»Und ich wäre eine Witwe.«
»Wie so viele andere Frauen, die mit ehrbaren Männern verheiratet waren.«
»Hat sich schon jemand vom Lehrpersonal in Charterhouse verpflichtet?«
»Ich kann nicht für meine Kollegen sprechen«, erwiderte George, »aber für Brooke, Young, Bullock, Herford, Somervell und Finch. Sie gehören zu den besten Männern meiner Generation und haben nicht gezögert, unserem Land zu dienen.«
»Sie haben aber auch deutlich gemacht, dass sie deine Lage verstehen.«
»Schon möglich, aber sie haben sich nicht für den bequemen Weg entschieden.«
»Dem Mann, der den Markusturm erklommen hat, kann niemand vorwerfen, den bequemen Weg zu wählen«, protestierte Ruth.
»Aber was, wenn derselbe Mann es versäumt, seinen Kameraden an der Front beizustehen, wenn sein Land sich im Krieg befindet?« George nahm seine Frau in die Arme. »Ich verstehe deine Gefühle, Liebes, aber vielleicht …«
»Vielleicht ändert es irgendetwas, George«, unterbrach sie ihn, »wenn ich dir sage, dass ich schwanger bin?«
***
Diese freudige Nachricht gewährte George in der Tat einen Aufschub, eine Entscheidung zu fällen, doch kurz nach der Geburt seiner Tochter Clare traten seine Schuldgefühle erneut an die Oberfläche. Ein eigenes Kind ließ sein Gefühl von Verantwortung für die nächste Generation sogar noch stärker werden.
Der Krieg zog sich in die Länge, und George unterrichtete immer noch. Dass er jeden Tag auf dem Weg zur Schule an einem Anwerbeplakat vorbeikam, auf dem ein kleines Mädchen bei ihrem Vater auf dem Schoß saß und fragte »Daddy, was hast DU im großen Krieg gemacht?«, machte die Sache für ihn nicht leichter.
Was würde er Clare antworten?
Mit jedem Freund, den George verlor, begann der Albtraum von neuem. Er hatte gelesen, dass selbst die mutigsten Männer zerbrechen konnten, wenn sie zum ersten Mal dem Artilleriefeuer ausgesetzt waren. George dagegen saß friedlich auf seiner angestammten Bank in der Schulkapelle, als etwas in ihm zerbrach.
Der Direktor erhob sich von seinem Platz, um die Morgenandacht zu leiten. »Lassen Sie uns beten«, begann er, »für jene ehemaligen Charthouse-Schüler, die das höchste Opfer gebracht haben, indem sie ihr Leben für eine größere Sache hingaben. Betrüblicherweise«, fuhr er fort, »muss ich der wachsenden Liste zwei weitere Namen hinzufügen. Lieutenant Peter Wainwright von den Königlichen Füsilieren fiel bei Loos, als er einen Angriff auf einen feindlichen Posten anführte. Wir werden ihn nie vergessen.«
»Wir werden ihn nie vergessen«, wiederholte die Gemeinde.
»Zum Zweiten Lieutenant Simon Carter, an den viele von uns sich
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