Berger, Fabian
Erinnerungen zuckten wie aufflackernde Filmsequenzen vor ihrem inneren Auge: Sie konnte sich auf der Straße liegen sehen. Die Front eines Autos aus der Froschperspektive, zwei Gesichter, ein Mann, eine Frau, ein Bistro mit dunklen Korbstühlen vor dem Eingang, ihr Treppenhaus. Alles blitzte nur sekundenlang auf. Was hatte das zu bedeuten? Wer waren diese Leute? Sie versuchte, sich zu erinnern. Doch so sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr einfach nicht. Wie war sie nach Hause gekommen? Wo war sie gewesen? Sie fühlte sich als hätte jemand mit einem Putztuch in ihrem Kopf herumgewischt. Panik stieg in ihr auf. Irgendetwas war mit ihr geschehen.
Die Schmerzen wurden schlimmer und ein milchiger Schleier legte sich über ihre Pupillen. Sie konnte ihre Umgebung nur noch verschwommen wahrnehmen. Erschreckt stellte sie fest, dass ihre Nase wieder blutete. Im nächsten Moment sackte sie in sich zusammen und sie fiel bewusstlos zu Boden.
-43-
L orenz fuhr mit dem Finger über den Monitor und deutete auf den Bereich, wo Datum und Uhrzeit zum Versand der E-Mail platziert waren. Beide starrten ungläubig auf den Bildschirm. Die E-Mail, die er vorhin noch als Spam deklariert hatte, bestand aus einem Stadtplan mit der genauen Lagebezeichnung des zweiten Tatorts. Die Nachricht war bereits versandt worden, bevor sie überhaupt von dem Mord erfahren hatten.
»Sag mir bitte, dass das ein Fehler ist!«, forderte er von seiner Tochter, die nicht minder ratlos wirkte als er.
»Das ist kein Fehler. Die Mail ist zu diesem Zeitpunkt angekommen. Daran besteht kein Zweifel.«
»Aber wie ist das möglich? Niemand wusste davon. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Selbst ich nicht. Nur einer konnte bereits Kenntnis davon haben!«
Sie antwortete sehr leise. »Der Mörder!«
Seit Tagen hatten sie auf eine Spur gehofft. Endlich war es soweit. »Kann man die Mail zurückverfolgen? Ich meine, kann man feststellen, wer sie geschrieben hat?«
»Normalerweise schon. Aber in diesem Fall wird es kaum möglich sein.«
»Bitte, Hannah. Denk nach! Ich muss dir nicht sagen, wie wichtig diese Information ist.«
»Wie gesagt. Die Mail stammt von einem Absender außerhalb Deutschlands, und zwar« Hannah schaute ein weiteres Mal in die Headerzeile. »aus Taiwan.«
»Was bedeutet das?«
»Das bedeutet, dass die Nachricht über einen falsch konfigurierten Email-Server an dich versendet worden ist, und der eigentliche Urheber nicht ermittelt werden kann. Zumindest nicht von mir.«
»Kannst du trotzdem versuchen, etwas über den Absender herauszubekommen?«, bat Lorenz.
Sie schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht unsere Spezialisten aus der EDV.«
Mit einem Blick auf seine Armbanduhr kam die Enttäuschung. »Ich fürchte, dass wir die Kollegen heute Abend nicht mehr um ihre Unterstützung bitten können. Es ist bereits zu spät. Es würde mich wundern, wenn dort um diese Zeit noch jemand zu erreichen ist.« Resigniert betrachtete er den Absender der E-Mail.
»Nathanael ...? Das habe ich doch schon mal irgendwo gelesen!«, dachte er und begann tiefer in seinen Erinnerungen zu graben. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Er griff nach der Maus und wechselte in den Posteingang. Doch die Information, nach der er suchte, war verschwunden. »Das ist nicht die erste Nachricht von diesem Nathanael!«, gab er kleinlaut zu.
»Wie meinst du das?«
»Ich habe schon mal so eine Mail bekommen, vermutete damals ebenfalls eine Spam dahinter. Da habe ich sie gelöscht.« Er ärgerte sich über sich selbst, weil er scheinbar eine wichtige Spur vernichtet hatte.
Hannah schob den Arm ihres Vaters beiseite und wechselte mit einem Mausklick in den Papierkorb. »Meinst du vielleicht die hier?«
Erstaunt sah er sie an. »Wie hast du das gemacht?«
»Wenn du eine E-Mail löschst, dann schiebst du sie nur in den Papierkorb. Erst wenn du den Papierkorb entleerst, ist die Nachricht für immer verschwunden. Es sei denn, sie befindet sich noch irgendwo als Sicherungskopie.« Sofort öffnete sie die Nachricht und wieder erschien derselbe Stadtplan. Allerdings befand sich die kreisrunde Markierung an einer anderen Stelle als zuvor.
Lorenz ahnte bereits, welchen Bereich der Kreis umrahmte, noch bevor er sich auf der Karte orientiert hatte. »Der erste Tatort!«
Hannah überprüfte Datum und Zeitpunkt der Versendung. Auch diese Nachricht hatte seinen Posteingang erreicht, bevor er zum Tatort gerufen worden war.
Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch.
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