Berger, Fabian
versagte.
»Er wurde Opfer eines Gewaltverbrechens. Es tut mir wirklich sehr leid, Frau Gilden.« Hannah beobachtete die junge Frau, die mit aller Macht versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten.
Sie schluckte schwer. »Ein Gewaltverbrechen? Aber wer sollte so etwas tun?«
»Das wissen wir noch nicht, aber wir werden es herausfinden.«
Die Frau stützte ihre Ellbogen auf die Tischplatte und vergrub das Gesicht in die Hände. »Nach allem, was er durchgemacht hat.«
»Wie meinen Sie das?«, hakte Hannah nach.
Die Frau rang nach Fassung. »Konrad hat vor zwei Jahren seine Frau und seine zwei Jahre alte Tochter bei einem Verkehrsunfall verloren. Er ist nie über diesen Verlust hinweggekommen. Ich schätze, niemand würde das so einfach bewältigen können, und ich wüsste nicht, was ich an seiner Stelle getan hätte. Wahrscheinlich wäre es mir nicht anders ergangen. Er fiel in eine tiefe Depression. Nichts um ihn herum schien ihn mehr zu interessieren. Er verlor schließlich seine Stelle und zog sich komplett zurück. Keiner seiner Freunde konnte sich ihm mehr nähern. Selbst ich fand keinen Zugang mehr zu ihm. Sie müssen wissen, dass unsere Eltern schon früh gestorben sind. Seitdem hatten wir stets ein sehr enges Verhältnis. Dennoch gelang es mir nicht, zu ihm durchzudringen. Der Schmerz über den Verlust seiner Familie war so intensiv, dass er mehrmals versuchte, sich das Leben zu nehmen. Seitdem wurde er in der Psychiatrie der Kölner Universitätsklinik stationär behandelt. Unser Kontakt beschränkte sich lediglich auf einzelne Besuche, bei denen ich mich hauptsächlich bei dem behandelnden Arzt über seinen Gesundheitszustand erkundigte. Von sich aus hat er nie den Kontakt zu mir gesucht. Bis zu jenem Tag im April. Er rief mich zuhause an und schien vollkommen verwandelt. Parallel zu seinem Aufenthalt in der Psychiatrie hatte er sich einer Therapie unterzogen, die derart erfolgreich bei ihm angeschlagen war, dass ich glaubte, den alten Konrad vor mir zu haben. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie überrascht ich war. Doch das war noch nicht alles. Während seiner Behandlung hatte er eine Frau kennengelernt. Ebenfalls eine Patientin, die sich derselben Therapie unterzogen hatte. Ich konnte es kaum glauben, als er mir sagte, dass die beiden sich ineinander verliebt hatten. Sicher, das kam alles sehr plötzlich und überraschend für mich. Dennoch versuchte ich mich für ihn zu freuen. Er war so euphorisch. Er klang so glücklich.« Ihr Blick ging ins Leere.
Hannah bemühte sich, die Unterhaltung aufrechtzuerhalten. »Und was passierte dann?«
»Bei seiner Freundin hatte die Therapie jedoch nicht so gut angeschlagen. Ihr Zustand hatte sich seitdem sogar noch verschlechtert. Doch Konrad stand ihr bei und besuchte sie täglich, nachdem er aus der Klinik entlassen worden war. Vor zwei Wochen rief er mich an und war vollkommen aufgelöst. Sie war über Nacht einfach so aus der Psychiatrie verschwunden. Niemand wusste, wie sie die Sicherheitsvorkehrungen überwinden und das Gebäude verlassen konnte. Konrad setzte alles daran, sie zu finden. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen oder gesprochen. Das ist jetzt gut eineinhalb Wochen her.« Sie erhob sich von ihrem Platz und öffnete eine Schublade zwischen Kühlschrank und Spüle. Wortlos zog sie einen Umschlag heraus und entleerte dessen Inhalt auf dem Küchentisch. Sie deutete mit dem Finger auf ein Foto und tippte auf das Gesicht einer jungen Frau. »Das ist sie. Vielleicht hilft Ihnen das ja weiter. Das war zu dem Zeitpunkt, als die beiden sich gerade kennengelernt hatten. Konrad hat mir dieses Foto bei einem meiner Besuche in der Psychiatrie gegeben.«
Hannah betrachtete das Bild eingehend. Sie erkannte das Gesicht sofort wieder. »Das ist Clara Berg!«
»Wie bitte?« Vera Gilden zog das Foto an sich und blickte selbst darauf. »Nein, das ist Charlotte Bernstein. Sie leidet an einer leichten Form von Multipler Persönlichkeitsstörung. Aus diesem Grund wurde sie dort behandelt. Aber Konrad war das egal.«
Auf einmal wurde Hannah einiges klar. Die Frau, die sie angefahren hatten und die sich nun im Polizeipräsidium aufhielt, war nicht - wie sie selbst behauptete - Clara Berg, sondern Charlotte Bernstein. Nur Charlotte Bernstein selbst war sich dessen nicht bewusst. Womöglich wechselte sie zwischen den beiden Persönlichkeiten hin und her. Vielleicht hatte die Therapie etwas damit zu tun und womöglich hatte die Behandlung die Symptomatik noch
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