Berger, Frederik - Die Geliebte des Papstes
steiler wurden. Wahrscheinlich hatte sich die Bärin längst davongeschlichen. Ja, alles drängte tatsächlich auf einen Mord hin. Giovanni wollte ihn die Felsen hinabstoßen – oder von dem Tier zerfleischen lassen.
»Warum schweigst du?« fragte Silvia.
»Plötzlich stand die Bärin vor uns, richtete sich auf, wischte einen der Hunde, der sie angriff, zur Seite. Ich richtete den Spieß gegen sie, Giovanni spannte den Bogen. Ich rief ihm noch zu, den Spieß zu nehmen, der Pfeil würde die Bärin kaum verletzen, sondern nur wütend machen. ›Genau das soll sie, wütend sein‹, rief er und schoß den Pfeil ab. Und wie ich es vorhergesehen hatte: Der Pfeil traf, aber er verletzte das Tier nur leicht. Die Bärin knickte ihn ab und stürzte sich auf uns. Es ging so schnell! Ich richtete den Spieß gegen sie, um sie abzufangen, wenn sie sich auf uns fallen ließ. Giovanni trat mehrere Schritte zurück und spannte wieder seinen Bogen. Er war verrückt. Vielleicht wollte er auch fliehen. Oder …«
Alessandro unterbrach sich selbst.
»Oder – was?«
»Ich weiß es nicht. Ich hörte Giovanni schreien. Über mir das Bärengebrüll, die Reißzähne, das dunkle Ungetüm, die Pranken mit den scharfen Krallen. Ich wich zurück und hielt das Tier durch den Spieß auf Distanz. Die Bärin schlug ihn mehrfach zur Seite. Aber plötzlich gab sie auf, wandte sich ab, war im Nu verschwunden.«
»Und wo war Giovanni?«
»Ich sah ihn nicht mehr. Er war abgestürzt. Er mußte beim Zurückgehen, während er den Bogen spannte, gestolpert und in den Abgrund gestürzt sein. Vielleicht hundert Ellen tief. Ich schaute den steil abfallenden Hang hinunter. Unten im Tal bedeckte undurchdringlicher Blätterwald den Boden. Aber ich konnte sehen, wo er zum ersten Mal aufgeschlagen war. Ich erkannte einen Blutfleck an einem spitzen Felsen.«
Er schwieg eine Weile, auch Silvia schwieg. Noch nicht einmal Tränen flossen.
»Ich stieg dann hinunter«, fuhr er schließlich fort. »Es wurde dunkel, ich rief nach den Jagdhütern. Giovannis Mann war nicht zu finden, meinen Gehilfen traf ich schließlich. Wir wollten noch nach Giovanni suchen, aber wir konnten nichts mehr sehen. Ich hätte die Nacht über im Tal bleiben und bei Helligkeit nach ihm suchen sollen. Vielleicht wirfst du mir das vor, Silvia. Ich ließ Giovanni einfach liegen. Niemand konnte ihm mehr helfen. Und ich, ich wollte nur dich sehen. Noch in der Nacht ritten wir nach Rom zurück.«
»Jetzt haben ihn die Wölfe gefressen«, sagte Silvia kalt.
»Silvia, ich beschwöre dich …«
»Vielleicht war er gar nicht tot.«
»Er kann nur tot gewesen sein. Gott hat es so gerichtet. Giovanni war wie besessen. Du mußt mir glauben.«
»Ich möchte dir glauben, Alessandro, aber …« Ihre Stimme klang alles andere als überzeugt.
»Warum vertraust du mir nicht? Wie kannst du mir nur unterstellen, ich hätte ihn getötet?«
Sie schwieg.
»Ich hätte ihn nicht liegenlassen sollen. Ich reite sofort hin, um ihn zu suchen.«
»Es wird zu spät sein. Im Tolfagebirge gibt es viele Wölfe, das weiß ich von Giovanni. Es ist zu spät, es ist alles zu spät.«
Alessandro ergriff ihre Hände. »Silvia, es ist nicht zu spät. Du wirst jetzt frei sein. Weißt du, was das bedeutet? Du bist frei!«
59. K APITEL
Du bist frei : In Silvias Ohren klangen seine Worte immer wieder nach. Sie klangen verführerisch und nach der Erfüllung all ihrer Wünsche. Nicht mehr eingesperrt sein in ein Haus, aus dessen Wänden sie ihre Brüder anlächelten, die Mutter ihr entgegentrat, in dessen Studiolo der Vater den Stand der Sterne zu deuten versuchte. In manchen Ecken hatten der Vater und Rosella ihre Vereinigung vollzogen, und im großen Bett hatte Giovanni ihre linke, dann ihre rechte Brust geküßt. In diesem Raum war der erste Sandro gestorben, und hier war der zweite geboren. Dieses Haus war ihre Welt und ihr Gefängnis.
Du bist frei .
Frei, dieses Haus zu verlassen und in einen halbfertigen Kardinalspalast zu ziehen? Frei, weiterhin die Befehle ihres Schwiegervaters zu mißachten und die beiden Jungen bei sich zu behalten? Frei von Angst?
Die Konkubine eines Kardinals zu werden, das war die Freiheit, die er meinte. Und gewann sie diese Freiheit, verlor sie ihre Ehre. Für immer.
Und damit stand etwas Bedeutendes gegen diese Freiheit.
Tagelang lief Silvia unruhig im Haus hin und her, hielt es kaum länger als den Bruchteil einer Stunde in einem Zimmer aus, konnte sich kaum ihren Kindern widmen, die
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