Berger, Frederik - Die Geliebte des Papstes
Abgründe lagen die Schatten der weitausladenden Pinien über dem Weg, und die Zypressen ragten, Totenstelen gleich, in die Nacht. Der gleißende Mond ließ die Konturen der Bäume und Häuser als düsteres Riesenspielzeug hervortreten. Manchmal hoben sich die alten Pflasterungen aus dem Boden, als kämen urzeitliche Totenschädel zum Vorschein. Dann wieder ein helles Band aus Staub. Hinter jedem Strauch und Baum konnte ein Wegelagerer hervorspringen.
Aber Alessandro begegnete keinem Menschen mehr. Außerhalb der Porta del Popolo hatte er noch Pilgergruppen lagern sehen, Bettler schliefen am Straßenrand, und da und dort schlich eine zweifelhafte Gestalt zwischen den Menschen hindurch. Bald darauf schienen die schwarzen Schatten alle Lebewesen verschluckt zu haben. Einmal zuckte ein lautloser Flügelschlag über ihm, eine Eule vielleicht – oder vielleicht auch der Engel, der ihn beschützte. Nein, er glaubte nicht an Geister, auch nicht an Engel, die unter weiten Schwingen zwischen Himmel und Erde verkehrten. Sein Schutzengel war unsichtbar.
Oder doch nicht?
Das Geräusch der trabenden Hufe war der einzige Laut, der die Nacht durchdrang. Eine Weile hatte er Wölfe heulen gehört, die Hofhunde antworteten ihnen, ein vielfältiges Konzert. Und dann sah er düstere Gestalten am Straßenrand auf ihn warten. Aber es waren nur Schatten oder Sträucher.
Während Alessandro die Nacht durchquerte, bedrängte ihn zunehmend der Wunsch, sofort wieder nach Rom zurückzukehren. Er wollte Silvia sehen. Vielleicht erlag er auch einer falschen Warnung? Vielleicht war tatsächlich alles nur Theater gewesen? Der Papst erfreute sich trotz seiner über siebzig Jahre bester Gesundheit, und Cesare war dabei, der ungekrönte Herrscher Italiens zu werden. Er würde ihm eine dumme Bemerkung nachsehen, wenn seine Laune sich wieder besserte – schließlich hatten sie sich gegenseitig das Leben gerettet, waren Blutsbrüder geworden. Auf der anderen Seite schien Cesare jegliche Hemmung vor einem Mord verloren zu haben, und es gab keinen, der es wagte, ihn zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Am wenigsten sein Vater, der verlängerte Arm Gottes auf Erden.
Am frühen Morgen erreichte Alessandro Capodimonte. Seine Mutter begrüßte ihn mit düsterer Miene. Wahrscheinlich hatte sie wieder schlecht geträumt, und tatsächlich hatte sie im Traum riesige Geier um den achteckigen Bau fliegen sehen.
»Ein Unglück, ein Unglück«, murmelte sie mit düsterer Stimme, »mein Sohn, warum erscheinst du hier am frühen Morgen wie ein gesuchter Verbrecher? Vor wem bist du auf der Flucht?«
Alessandro ließ sein Pferd versorgen und antwortete nicht. Erst als keine Stallknechte und Bedienstete mehr in der Nähe waren, erklärte er knapp, er habe sich mit Cesare Borgia gestritten, und es scheine ihm opportun, sich erneut ein wenig in die Einsamkeit zurückzuziehen. »Ich gehe auf die Isola Bisentina, und du verrätst niemandem, wo ich bin – ausgenommen Silvia, Giulia und della Rovere. Aber nur ihnen persönlich.«
»Denk an die Caetani und die Orsini!« bemerkte die Mutter. »Mein Traum hat mir also hellseherisch das Richtige verraten.«
»Genau deswegen ziehe ich mich zurück. Mir soll es nicht so gehen wie Onkel Caetani!«
Plötzlich verlor die Mutter alle düsteren Töne. Sachlich und kalt erklärte sie: »Virginio Orsini ließ mir kürzlich ausrichten, alles sei vorbereitet und nur noch eine Frage der Zeit.«
»Was meint er mit alles? «
Die Mutter zuckte mit den Schultern. »Der Borgia-Spuk wird vorbeigehen – hoffentlich bevor sie ihre Teufelskrallen auch auf uns legen.«
Alessandro verbrachte einige Tage auf der Isola Bisentina. Wieder ein glühendheißer August. Er schwamm viel, lag im Schatten der Steineichen und war in Gedanken bei Silvia. Er sah sie und die Kinder vor sich, wünschte sie um sich und fühlte sich immer wieder gedrängt, nach Rom zurückzukehren. Was tat er hier? Er versteckte sich tatsächlich wie ein Verbrecher vor seinen Verfolgern. Aber vielleicht verfolgte ihn niemand. Außerdem: Wer informierte ihn über die Lage in Rom? Er konnte allzu leicht die Kontrolle verlieren über seine Stellung im Vatikan, im Heiligen Kollegium …
Und wenn Silvia dieser Tage niederkam?
Er hielt es schließlich nicht mehr aus. Er mußte, um die neuesten Nachrichten über die Lage im Vatikan zu erfahren, wenigstens seine Schwester kontaktieren und außerdem Kardinal della Rovere. Der alte Borgia-Feind wußte sicher, ob sich eine neue Front
Weitere Kostenlose Bücher