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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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zu Bünting hinüber. Er griff nach einem spitzen Brieföffner und zeichnete Figuren auf den Mahagoni-Tisch. Ich bin kein Psychologe, aber es sah aus, als versuche er, sich in die Situation seines florettfechtenden Enkels zu versetzen.
    »Und wie ging es weiter?«
    Arndt zuckte die Achseln. Er hielt sich an seinem Glas fest und sah nicht mehr zu uns auf. Ein blondes Häuflein Elend. »Wie es weiterging? Ich stach zu, er röchelte und fiel hin. Das wars. Ich hatte einen Menschen getötet.«
    »Und keiner hat dich gesehen?«
    »Nein, wer denn? Ich stand ein paar Minuten unschlüssig bei ihm. Dann lief ich weg, so schnell ich konnte. Nach Hause.«
    »Nach Hause.«
    Er nickte.
    Ich sah ihn an. Nach Hause, ausgerechnet. Zu seinem Göttergroßvater, der schon Arndts Vater in den Tod getrieben hatte. Was hatte er da gesucht? Mitleid, Wärme, Verständnis? Außer Verachtung gab es im Oberen Auweg nichts zu holen. Wieder hatte ein junger Bünting versagt, hatte sein vielversprechendes Leben fortgeschmissen, die hochfliegenden Erwartungen seines Großvaters enttäuscht. Ein armer Hund, dieser Arndt Bünting. Erst Anfang 20 und schon unter die Totschläger gegangen.
    Und der Alte?
    Der kam bei dieser Geschichte viel zu gut weg, und das gefiel mir nicht. Das Geständnis des Jungen war für ihn ein Schock, aber gegen Schocks gab es Arbeit, Tabletten und das ›Weiter so‹-Ethos der Nachkriegshelden. Bünting würde seinem Enkel einen guten Anwalt besorgen und ihn nach Ablauf der Haftstrafe in eine Erziehungsanstalt stecken. In eine Privatuni oder eine Kadettenschule, was manchmal das Gleiche war. Er würde ihn drillen lassen, bis er wieder gesellschaftstauglich war, und wenn es nicht funktionierte, würde er ihn fallen lassen. Vielleicht adoptierte er an Arndts Statt den schönen Herrn Knöterich.
    Blieb nur die Behauptung Jakob Burkhardts: Bünting sollte ein junges Mädchen vergewaltigt haben. Und zwar vor über einem halben Jahrhundert. Wie sollte man das nachprüfen? Welche Folgen ergaben sich daraus? Das alles war doch viel zu lange her.
    »Hast du geglaubt, was dir Jakob erzählt hat?«, durchbrach der Alte die Stille.
    Das weckte den Jungen auf. »Gar nichts habe ich geglaubt«, brüllte er den Mann an, über den er die ganze Zeit in der dritten Person gesprochen hatte. »Niemandem mehr! Ihm nichts und dir nichts und allen anderen auch nicht! Hier sagt ja sowieso keiner mehr die Wahrheit! Euch geht es doch nur noch ums Weiterkommen und Kohlescheffeln und ...« Ein neuer Schwall Tränen erstickte seinen Ausbruch.
    Irgendwo im Haus schlug eine Uhr.
    »Sie sind Ihrem Enkel ein paar Erklärungen schuldig, Bünting«, sagte ich und hielt mein Glas ins Licht. Der Oban schimmerte bernsteingelb – Marc Covet hätte vielleicht eine andere Vokabel gebraucht –, meine Stimme war kalt und voller Verachtung.
    Ein schwerer Brieföffner wurde zur Seite gelegt. Der Silberrücken musterte seinen schluchzenden Nachkommen, den durstigen Privatflic und zuletzt wieder Arndt. Leise begann er zu lachen, ein Lachen voll tiefster Verachtung ... – für mich? Für seinen Enkel? Für die ganze Welt, so klang es.
    »Bitte«, sagte er mit heiserer Stimme. »Bitte, wenn Sie meinen, Sie elender Schnüffler. Es geht Sie zwar nichts an, aber Sie stecken Ihre verdammte Nase ja gerne in Familienangelegenheiten.«
    Familienangelegenheiten! Das Wort wurde zu Asche in seinem Mund. Hanjo Bünting, der seine Angehörigen systematisch in den Wahnsinn trieb, den Sohn zum Harakiri, den Enkel zum Totschlag, sprach von Familienangelegenheiten! Ihm hätte ich eine Bierflasche über den Schädel ziehen sollen, nicht Heinz Schafstett.
    »Jakob Burkhardt war es«, hörte ich ihn sagen. »Er hat 1945 das Mädchen vergewaltigt. Nicht ich.«
    Ich lachte auf. »Dummes Geschwätz, Bünting! Das können Sie ...«
    »Stopp!«, schnitt er mir scharf das Wort ab und richtete einen Finger auf mich. »Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Wie so oft, Koller. Lesen Sie Zeitungsberichte aus der Zeit oder fragen Sie jemanden, der noch lebt. Der Vergewaltiger war Jakob. Das wusste jeder. Jakob Burkhardt: der Mann, der dort auf dem Foto zu sehen ist und der letzte Woche zum ersten Mal seit dem Krieg wieder deutschen Boden betrat.«
    Ich schwieg. Seine Augen funkelten mich böse an.
    »Das Mädchen war 12 oder 13. Soviel ich weiß, hat es aus Angst ein paar Tage lang geschwiegen. Dann kam alles raus. Jakob und ich waren befreundet. Wir waren gleich alt, beide aus Norddeutschland. Mit 16

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