Bergfriedhof
Seufzen sank ich in mein Versteck zurück und fiel gegen den gepolsterten Hocker.
10
Die Küchentür des Englischen Jägers öffnete sich. Ein Tablett, auf dem sich etliche Portionen Pommes frites türmten, wurde hereingetragen; dahinter glänzte der kahle Schädel der Wirtin. Maria musste ihre kurzen Arme ganz ausstrecken und das Kreuz durchbiegen, um unter ihrer Last nicht zusammenzubrechen. Sie zwängte sich durch den engen Gast-raum, am voll besetzten Stammtisch vorbei, verscheuchte einen Langhaarigen, der im Weg stand, schob einen Stuhl mit der Hüfte zur Seite, verlor unterwegs aber nicht ein einziges Pommes-Stäbchen. An unserem Tisch stellte sie das Tablett ab und verteilte die Portionen.
»Ketchup«, sagte Tischfußball-Kurt. »Nicht Mayo, verdammt.«
»Cool«, strahlte der mit der Nickelbrille.
Jeder am Tisch bekam seine Portion. Der eine ertränkte sie in Mayonnaise, der andere bestellte Salz nach. Und natürlich Bier, wegen des Salzes.
»Ich auch ein Bier.«
»Weizen. Kannst gleich zwei bringen. Aber nacheinander.«
»Orangensaft«, bellte Tischfußball-Kurt. »Ohne Eiswürfel, verdammt.«
»Mensch, Maria«, sagte der schöne Herbert, »deine Portionen waren auch schon mal größer.«
Das stimmte natürlich nicht. Marias breite Pizzateller werden immer bis zum Rand gefüllt. Ihre Pommes-frites-Portionen sind Legende, und daran wird sich so schnell nichts ändern. Das wusste auch Herbert, und deshalb zeigte sich zum ersten Mal so etwas wie Zufriedenheit auf seinem trübsinnigen Antlitz, was er durch seinen Kommentar zu verbergen suchte. Er schnappte sich zwei Pröbchen Ketchup, die Maria in die Mitte des Tischs geworfen hatte, bevor Tischfußball-Kurt sie alle einheimsen konnte, und vergaß für einen Moment sein geliebtes Schachspiel. Kurt moserte noch ein wenig herum, doch seine Lippen glänzten bereits fettig.
»Ich würd auch noch eins nehmen«, sagte ich und hielt Maria mein leeres Bierglas hin. Nickend und stumm die Bestellung memorierend, zog sie sich zurück.
Ich sah ihr nach. Manche Dinge werde ich nie verstehen. Warum tut diese Frau das alles? Warum ist sie so, wie sie ist? Jeden Tag 15 Stunden in einer schäbigen, verqualmten Kneipe, kein Ruhetag, eine Woche Urlaub über Weihnachten, die Klientel fragwürdig, der Verdienst minimal. Einer wie Maria würden die Neuenheimer Wohlstandsbürger nicht einmal die Hand schütteln wollen. Sogar ihre Kundschaft vorne am Stammtisch verachtet sie und kommt nur wegen der günstigen Preise. Maria ist Sizilianerin, sie hat eine Glatze, spricht schlecht Deutsch, und wenn sie irgendwann einmal aufgibt, wird der Englische Jäger sofort in eine Tapas-Bar oder einen Sushi-Treff verwandelt.
Aber sie gibt nicht auf. Für die unteren Einkommensklassen hat die kleine Frau mehr getan als alle Sozialgesetze der letzten 10 Jahre. Sie ist es, die Heidelbergs dritten Stand vor dem Hungertod bewahrt. Inflation, Erhöhung der Mehrwertsteuer, explodierende Preise, sinkendes Durchschnittseinkommen ... na und? Marias Fritten kosten immer noch das, was sie kosteten, als ich nach Heidelberg kam. Nur, warum das so ist, konnte mir noch niemand erklären. Weil Maria zum Samariterorden gehört? Weil sie die Gesetze der Marktwirtschaft nicht kapiert hat? Weil sie schwer von Kapee ist? Vielleicht. Nichts davon ist auszuschließen. Vielleicht aber auch, weil sie weiß, dass ihr die paar Cent, die sie ihren Quartalstrinkern und all den anderen Angeschwemmten aus den löchrigen Taschen ziehen könnte, nicht weiterhelfen würden. Oder weil Menschen wie Maria grundsätzlich auf der Verliererseite des Lebens stehen. Ich fände das sympathisch.
Denn, wie es der Zufall will, da stehe ich auch. Kein Mitleid, bitte schön, man muss den Tatsachen ins Auge sehen. Als ich einmal vor der Wahl stand, mit dem attraktivsten Mädchen des Landkreises zum Abschlussball der Tanzstunde oder ohne sie zu einem Europapokalspiel des 1. FC Kaiserslautern zu gehen, baute sich meine Mutter mächtig vor mir auf und fragte mich mit bebender Stimme: Willst du denn ewig auf der Seite der Verlierer stehen, Max? Ich verstand damals nicht, was sie meinte. Die Roten Teufel aber schieden zu Hause gegen eine dieser Knochenbrechermannschaften aus dem Ostblock aus – welche war es noch? Steaua Bukarest? Universitatea Craiova? –, und ich stand heulend in der Westkurve, über die gerade ein Wolkenbruch niedergegangen war. Mein Vater hatte sich an diesem Tag nicht eingemischt, weil er ein grauenhafter
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