Bergfriedhof
Standortvorteil auszunutzen. Beispielsweise interessierte mich brennend, wer sich noch in dieser Villa aufhielt. Das obere Stockwerk lag totenstill vor mir; ich stieg die Treppe nach unten. Im Foyer öffnete ich die Tür, durch die das Dienstmädchen eingetreten war. Vor mir erstreckte sich ein geräumiger Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Ich drückte die nächstbeste Klinke und stand in einer Art Wohnzimmer. Büntings Feierabendparadies.
Vom ästhetischen Standpunkt aus die gleiche Enttäuschung wie in den anderen Räumen: teurer Schmock überall, ein Mix aus badischem Barock und postmoderner Spießigkeit. In der Mitte des Raumes thronte das Auge eines riesigen Fernsehers im Breitwandformat. Ein mächtiges Fenster gab den Blick auf den Garten frei, ein dicker Teppich schluckte jedes Geräusch meiner Schritte. Auch hier hingen ein paar private Fotos an der Wand; ich erkannte den blonden Jüngling wieder, dazu Bünting mit irgendwelchen Großkopferten, wahrscheinlich Managern oder Politikern. Und genau wie oben fehlte etwas: Nicht eine einzige Frau war auf diesen Bildern zu sehen.
Als ich so dastand und mir die Gesichter einzuprägen versuchte, verspürte ich ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Haargenau jenes Kribbeln, das keine Handbewegung verscheuchen kann, das einem das untrügliche Gefühl gibt, beobachtet zu werden. Ich drehte mich um.
In einem hohen Lehnstuhl hockte die gelähmte Frau und sah mich an. Sie verschwand völlig in den Polstern, und da sie türabgewandt saß, hatte ich sie beim Eintreten nicht bemerkt. Vorsichtshalber hielt ich erst mal meinen Mund.
Draußen tirilierte ein Vöglein, oben bellte Bünting ins Telefon, ein Flugzeug zog brummend am Abendhimmel seine Bahn, aber hier unten blieb es still wie in einem Grab. Sie schwieg, ich schwieg ... Es war eine grauenhafte Stille, ein gletscherkalter Block von Tonlosigkeit. Sie sah mich einfach nur an, diese Frau. Unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Blonde, zum Teil ergraute Haare hingen in schütteren Strähnen um ihren bleichen Kopf, über die Wangenknochen spannte sich fleckige Haut wie Leder, und in den Augenhöhlen steckten matte blaue Knöpfe. Nur ihr Mund war leuchtend rot geschminkt. Wie eine Ampel.
Und sie sagte nichts, sie sagte kein einziges Wort.
Verdammt noch mal, warum fuhr sie mich nicht an, warum schrie oder schimpfte sie nicht mit dem Eindringling? War sie völlig blöde? Stumm, blind, geistesgestört?
Ja ... das war es wohl. Geisteskrank.
Das musste es einfach sein. Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere, doch das knackende Geräusch, das dabei entstand, wurde vom Teppichboden aufgesaugt. Meine Gesichtsmuskeln zuckten nervös; die Frau in dem Lehnstuhl glotzte mich unverwandt an. Wortlos, reaktionslos. Nein, diese Person konnte nicht sprechen. Oder das zu Sprechende nicht denken. Oder das zu Denkende verlor sich in den hohlen Gängen ihres mumifizierten Leibes. Ein Stück Holz, ein Termitenbau, ein Sack mit Haaren und geschminkten Lippen! Ohne Gedächtnis, ohne Empfindungen, in ewiger Dunkelheit, in einem unwirtlichen Land beheimatet ... Gefangene einer endlosen Wüste, in der abendliche Besucher, die plötzlich vor einem stehen, ein vernachlässigbares Übel darstellen. Ich schüttelte mich und machte, dass ich diesem Mausoleum entkam.
Draußen im Flur holte ich tief Luft ... und stand einer weiteren Frau gegenüber. Dem Dienstmädchen. Sie sah mich erstaunt an, verkniff sich aber eine Bemerkung. Ich hätte ja ein guter Freund ihres Herrn und Meisters sein können.
»Gut, dass ich Sie treffe«, sagte ich, und meine Erleichterung kam von Herzen. »Ist sie krank? Geistes ... geistesabwesend?«
Sie begriff sofort, von wem ich sprach. »Ja, sie ist sehr krank«, antwortete sie. »Wussten Sie nicht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wo ist Herr Bünting?« wollte sie wissen. Interessant, wie sie das R rollte. Überhaupt sprach sie gut, aber nicht ganz akzentfrei Deutsch. Dazu ihre hohen Wangenknochen, das rund e Gesicht ... ich tippte auf osteuropäische Herkunft. Eine Russin vielleicht.
»Können wir uns einen Moment ungestört unterhalten?«, fragte ich sie. »Nur ein paar Minuten. In Ihrem Zimmer am besten?«
»Unterhalten? Jetzt? Also ... ich habe keine Zeit, muss arbeiten.«
»Arbeiten dürfen Sie ja später noch. Es geht ganz schnell. Nur ein paar kurze Fragen.«
Du meine Güte, wie sie sich sträubte! Erst als ich ihr meinen Namen nannte und mich als Geschäftspartner Büntings vorstellte,
Weitere Kostenlose Bücher