Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
führte sie direkt ins Behandlungszimmer. Der Dorfarzt stellte sich nochmals als Doktor Conrad vor und bat Julia, sich aufs Behandlungsbett zu setzen, das mit einem Papier ausgelegt war. Er fragte, ob sie noch Kopfschmerzen habe und ob ihr noch übel sei. Sie verneinte beides.
Dann leuchtete er ihr in die Augen. »Ich denke, es war nur eine leichte Gehirnerschütterung. Sie sollten sich in den nächsten paar Tagen noch etwas schonen, nicht den ganzen Tag im Tunnel verbringen, das kann wieder zu Kopfschmerzen führen.«
»Das wird schwierig, ich arbeite im Tunnel.«
»Einfach möglichst wenig. Ich werde Ihnen hier noch etwas verschreiben. Nur für den Notfall.« Er ging zu seinem Schreibtisch, setzte eine Brille auf und nahm den Rezeptblock zur Hand.
Julia rutschte von der Liege hinunter. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben. Rasch stützte sie sich mit einem Arm auf dem Bett ab, zog sich wieder hoch.
Der Arzt kam hinter seinem Schreibtisch hervor und führte sie zum Stuhl. Erschöpft ließ sie sich darauf fallen.
»Sie müssen sich wirklich noch etwas schonen. Am besten, Sie bleiben heute dem Tunnel fern.«
»Langsam bekomme ich das Gefühl, dass man mich gar nicht in diesem Tunnel haben möchte.«
»Wie kommen Sie darauf?« Der Arzt nahm seine Brille ab und musterte Julia.
»Zuerst der Lastwagen und dann diese Frau.«
»Welche Frau?«, fragte Doktor Conrad.
»Die mit der schwarzen Katze.«
»Roberta?« Er lachte. »Die ist doch harmlos. Hat sie Sie belästigt?«
»So ähnlich«, sagte Julia.
»Roberta würde am liebsten das ganze Tal unter Denkmalschutz stellen. Es soll sich nichts ändern, alles soll so bleiben wie vor fünfzig Jahren. Sie können sich nicht vorstellen, wie sie sich gegen unseren Neubau gewehrt hat. Sie wollte sogar einen Einspruch machen, aber zum Glück ist ihre Liegenschaft zu weit weg.«
Eigentlich schade, dass sie diesen Bau nicht hatte verhindern können, dachte Julia.
»Also, tun Sie, was Sie mögen, aber machen Sie sich nicht so viele Gedanken.«
Julia bereute, dass sie etwas gesagt hatte. Musste sie sich nun von diesem Arzt sagen lassen, was sie zu tun hatte? Energisch schüttelte sie den Kopf, bereute es sofort. Das Kopfweh war doch noch nicht ganz weg.
Sie nahm ihre Sachen und verließ die Arztpraxis. Als sie bei Robertas Haus vorbeikam, war niemand mehr da. Auch die Katze war verschwunden.
Den Nachmittag verbrachte Julia in ihrem Zimmer. Sie würde sowieso nichts tun können, bis das Ersatzteil kam. Und falls Marta Probleme bereiten würde, rief Stettler bestimmt an. Eigentlich hätte sie jetzt Zeit gehabt, ihren Rucksack auszupacken. Doch dazu hatte sie keine Lust. Sie checkte ihre Mails. Jan hatte noch immer nicht geantwortet. Sie versuchte ihn anzurufen, doch sie erreichte nur seine Mailbox. Frustriert nahm sie ein Buch zur Hand und begann zu lesen. Bereits bei der zweiten Seite schlief sie ein.
»Nun nimm schon ab!« Tom deutete auf Jans Hosentasche. Sie spazierten am Ufer des Meeres entlang, an Dünen und Strandkörben vorbei. Tom hatte die Schuhe ausgezogen. Vor ihnen lag ein Holzsteg, der ins Meer hinausführte.
»Keine Lust«, antwortete Jan.
»Ich finde, du übertreibst. Nur weil Julia in die Schweiz fahren musste. Das ist doch ihr Job.«
»Was weißt du schon.« Jan bückte sich nach einem Stein.
Sie betraten den Steg.
»Nichts. Erzähl’s mir!«
Jan ließ den Stein übers Wasser schiefern und blieb mit seinem Blick an dem Punkt haften, an dem er versank.
»Komm, wir setzen uns hin.« Tom stellte seine Schuhe, die er die ganze Zeit über in der Hand getragen hatte, auf die Holzplanken und setzte sich an die Kante des Stegs.
Jan zögerte, dann ließ er sich ebenfalls nieder. Er betrachtete die Wellen, die ans Ufer züngelten.
»Es ist alles eine Frage des Gleichgewichts«, sagte Jan.
»Des Gleichgewichts?« Tom schaute ihn verwundert an.
»Siehst du die Wellen da?« Er deutete zum Ufer.
»Was ist mit denen?«, fragte Tom.
»Die kriechen immer wieder den Sand hinauf, fallen zurück. Immer wieder.«
»Na und?«
»Es scheint mir so sinnlos. Als würden sie versuchen, an Land zu kommen, jedoch keinen Halt finden. Schließlich werden sie von einer großen Kraft immer wieder zurückgezogen. Sie mühen sich ab. Der reinste Sisyphus.«
»Wellen, die an Land kommen wollen? Das ist nicht wirklich dein …«
»Genauso komme ich mir vor«, fiel Jan Tom ins Wort. »Ich bin die Welle, und Julia ist das Ufer. Ich versuche mich ihr zu
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