Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
an ihr herunter. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie im BH vor ihm stand. Schnell schlüpfte sie in die Ärmel und zog den Reißverschluss des Overalls hoch.
»Hast du mich erschreckt!«, fuhr sie ihn an.
»Scusa, das wollte ich nicht.«
»Was machst du überhaupt hier?«
»Ich gehe zu Marta . Muss morgen die erste Schicht übernehmen. Wollte mich vorher noch etwas mit ihr anfreunden. – Und du? Machst du einen Strip im Tunnel?« Er lachte. Seine weißen Zähne leuchteten trotz der schummrigen Beleuchtung.
»Das geht dich nichts an.«
»Kein Wunder, will man keine Frauen im Tunnel. Da käme ja niemand mehr zum Arbeiten.«
»Können wir jetzt gehen?«
Er bot ihr seinen Arm an.
»Danke, ich schaff das alleine.«
Stettler hätte es ihr nicht zu sagen brauchen. Maria hatte es gewusst, als er sie in sein Büro rief. Oder gespürt? Etwas war nicht mehr da. Es war ein Gefühl, sie konnte es nicht erklären.
Maria war noch nie hier gewesen. Die Wände waren mit irgendwelchen Plänen vollgehängt. Sie hatte Antonio immer gesagt, dass es keine gute Idee sei, im Tunnel zu arbeiten. Hatte ihn davon abbringen wollen. Vergeblich. Sie war traurig und wütend zugleich, sie konnte nicht einmal weinen.
Stettler fragte, ob sie ein paar Tage freinehmen und zu ihrer Familie fahren wolle. Doch was sollte sie dort? Die waren schon immer dagegen gewesen, dass sie einen wie Antonio heiratete. Einen, der den ganzen Tag im Berg steckte. Dabei hatte er vor, nach dem Novai-Tunnel aufzuhören, ihr zuliebe. Sie wollten eine Familie gründen mit einem Vater, der anwesend war. Doch Marias Familie war der Meinung, sie mache sich da etwas vor. Einmal Tunnel, immer Tunnel. Und seit sie ihre Stelle als Coiffeuse gekündigt hatte, waren sie nicht mehr gut auf sie zu sprechen. Niemand hatte es verstanden, dass sie nun als Putz- und Servierfrau im Barackendorf arbeitete.
In drei Monaten hätten sie geheiratet. Antonio wollte noch diesen Tunnel fertig machen, und dann hätten sie sich eine Wohnung gesucht. Irgendwo in der Nähe einer größeren Stadt. Mit viel Grün für die Kinder zum Spielen. Und sie hätte wieder in ihrem alten Beruf gearbeitet. Zuerst zu Hause für ein paar Kundinnen, später wieder in einem Coiffeursalon.
»Sie können natürlich auch freinehmen und hierbleiben.«
»Ich möchte arbeiten«, sagte Maria bestimmt.
»Wenn Sie meinen. Aber wenn was ist, melden Sie sich bitte bei mir. Jederzeit.«
So viel Fürsorge hatte Maria von Stettler nicht erwartet. Sonst war er immer ziemlich schroff. Erteilte nur Anweisungen.
»Ist das für Sie in Ordnung?«
Vielleicht hatte er ja einen guten Kern, dachte Maria.
Sie nickte und verließ das Büro.
Datum: Sonntag, 8. Juli 2012 23:55
Betreff: Es tut mir leid
Liebster,
es tut mir leid, dass ich einfach so weggefahren bin. Aber ich hatte keine andere Wahl. Kannst Du mir verzeihen? Ich würde gerne in Ruhe mit Dir über alles reden. Bitte melde Dich!
J.
Julia trat aus der Wohnbaracke. Die Sonne kam ihr heute besonders hell vor.
Es war spät geworden am Vorabend. Kaum hatte sie die Maschine erreicht, war die Vortriebsgeschwindigkeit massiv abgefallen. Zuerst dachte sie, das geflickte Ventil habe sich verabschiedet. Aber es war die Gesteinsschicht, die Marta etwas langsamer werden ließ.
Das geflickte Ventil hielt. Zum Glück. Denn das Ersatzventil war noch nicht gekommen, sondern am Schweizer Zoll hängen geblieben.
Sie war erst nach Mitternacht wieder in ihrem Zimmer. Eigentlich hatte sie Jan anrufen wollen. Doch im Tunnel gab es keinen Empfang, und nachher schien es ihr zu spät.
Julia hatte lange nicht einschlafen können. Sie dachte an Antonio und seine Träume. Wie er die Zukunft mit Maria geplant hatte. Und es machte sie traurig. Sie hatte ihn gemocht. Aber da war noch etwas anderes. Sie dachte an ihre eigenen Pläne. An ihre und Jans. Hatten sie überhaupt gemeinsame? Oder ließ sie sich einfach von ihrem Beruf vorwärtstreiben? Wie wenn das Leben ewig dauern würde? Und was, wenn mal etwas passierte? Einem etwas zustieß wie Antonio? Wenn von heute auf morgen alles aus war? Tat sie Jan nicht unrecht, wenn sie sich nicht festlegen und mit ihm keine Familie gründen wollte? Liebte sie ihn überhaupt? Das war es doch, was zwei Menschen machten, um ihre Liebe zu besiegeln. Ein Kind. Und wenn sie später wieder auseinandergingen und sich auf neue Partner einließen, auch die neue Liebe wurde meist mit einem Kind besiegelt. Als ob zwei Menschen sich nicht genügen
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