Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
nähern und werde immer wieder zurückgetrieben. Und irgendwann habe ich keine Lust mehr dazu. Weil es so einseitig ist.«
»Dann herrscht Ebbe.«
»Genau.«
»Und du nimmst das Telefon nicht mehr ab.«
Tom klopfte Jan auf die Schulter. »Komm, wir gehen was trinken.«
»Ich meine es ernst.«
»Ich auch.« Tom erhob sich.
Datum: Samstag, 7. Juli 2012 23:54
Betreff: Melde Dich!
Mein Liebster,
die letzten Tage waren etwas schwierig. Es läuft nicht alles so, wie ich es mir vorgestellt habe. Aber es geht mir schon wieder besser, Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen. Ich konnte Dich nicht erreichen, würde gerne Deine Stimme hören. Bitte melde Dich!
J.
Julia erwachte. Sie hatte wieder geträumt. Von der heiligen Barbara. Sie stand am Südportal und wollte sie nicht in den Tunnel hineinlassen. Julia war einfach durch sie hindurchmarschiert.
Es war noch dunkel. Aber Julia fühlte sich ausgeschlafen, in ihrem Kopf war es leicht und klar. Sie duschte und zog sich an.
Etwas später betrat sie die Kantine. Sie war nicht schlecht besetzt. An einem Tisch saßen die Männer der Wartungsschicht und frühstückten – oder aßen vielmehr zu Abend. Ein paar weitere Arbeiter saßen verstreut im Raum. Als die Maschineningenieure Julia sahen, begannen sie zu klatschen. Der Applaus verbreitete sich in der ganzen Kantine. Nur eine Person applaudierte nicht. Maria stand neben dem Büfett, die Hände tief in den Taschen ihrer Schürze vergraben. Die Männer winkten Julia zu sich. Doch plötzlich stand Stettler vor ihr und bat sie, in die Stüva mitzukommen.
»Sie sehen wieder besser aus«, sagte er.
»Danke.« Julia setzte sich an den Tisch zwischen den Bauleiter Morettini und Remo Bergamin. Sie hatte sich vorher kurz im Spiegel betrachtet. Ihr Gesicht wies alle nur denkbaren Farben auf. »Und wie läuft Marta ?«
»Wie neu!« Morettini strahlte.
»Das scheint nun doch etwas übertrieben!« Julia lachte.
»Ich hoffe, dass sie durchhält, bis das Ersatzteil da ist«, meinte Stettler.
»Das hoffe ich auch. Es sollte eigentlich heute …«
Stettlers Handy klingelte. »Ja? – Was? – Wer? – Antonio?«
Die ganze Runde blickte zu Stettler. Dieser stand ruckartig auf, nahm seinen Helm, der auf dem Stuhl neben ihm lag.
»Wir kommen.« Er hängte auf. Alle schauten ihn fragend an.
»Ein Unfall. Am Südportal«, sagte er nur.
»Ich komme mit.« Julia sprang auf.
»Aber machen Sie schnell. Wir fahren in zwei Minuten.« Stettler stand bereits an der Tür.
Julia lief zur Garderobe, zog sich den Overall über die Beine und stieg in die Stiefel.
»Was ist passiert?« Julia saß hinten neben Stettler, vorne saßen Morettini und Bergamin. Sie versuchte, in die Ärmel des Overalls zu schlüpfen, ohne Stettler dabei anzustoßen.
»Es gab offenbar eine Kollision«, sagte Stettler. »Zwei Waggons sind ineinandergefahren.«
»Vom Schutterzug?« Der Bauleiter hatte sich umgedreht.
»Und Antonio?«, fragte Julia.
»Er ist irgendwie dazwischengeraten.«
»Ist er …«, fragte Julia weiter.
»Ja, er ist tot.« Stettler schaute auf seine Knie.
»Aber was hat Antonio am Südportal gemacht? Er hätte doch bei Marta sein müssen«, sagte Julia.
»Er hatte heute seinen freien Tag.«
»Und da geht man freiwillig in den Tunnel?«
Stettler zuckte mit den Schultern.
In der Kaverne blinkte es blau. Die Wände warfen das Licht der Polizeiautos zurück. Außer der Polizei waren ein Krankenwagen, die Feuerwehr und ein dunkler Kastenwagen gekommen. Sehr wahrscheinlich der Leichenwagen, dachte Julia. Am Boden lag ein mit einem weißen Tuch bedeckter Körper. Antonio.
Julia trat näher heran und wollte das Tuch hochheben.
»Tun Sie das nicht.« Eine Polizistin hielt ihren Arm zurück. Sie war etwas älter, hatte rot gefärbte Haare. Die Falten in ihrem Gesicht sprachen von Lebenserfahrung. »Es ist kein schöner Anblick.«
»Was ist passiert?«, fragte Julia die Polizistin.
»Sind Sie eine Angehörige?«
»Nein, ich gehöre zum Bauteam. Ich bin von der Firma, die die Tunnelbohrmaschine gebaut hat.«
»Dann waren Sie es, die sie wieder zum Laufen brachte?«, fragte die Frau anerkennend.
Julia nickte und starrte weiter auf das weiße Tuch. »Antonio hat mir dabei geholfen.«
»So, wie’s aussieht, war es ein Unfall. Zwei Waggons sind aufeinandergeprallt. Und er stand dazwischen.«
»Aber wieso?«, fragte Julia.
»Eine Weiche war falsch gestellt.«
»Wieso war er überhaupt da?«
»Ich nehme an, weil er hier
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