Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
sich auf den Boden.
»Herr Stettler hat mich informiert. Ich würde Sie gerne untersuchen, wenn Sie erlauben.« Er kramte in der Tasche und nahm einen Stift hervor. Julia schob den Kübel beiseite. Er bat sie, sich auf den Rücken zu legen, setzte sich auf die Bettkante, leuchtete ihr in die Augen, nahm ihren Kopf in beide Hände und bewegte ihn sachte nach links und rechts, nach unten und oben. »Wie ist es genau passiert?«
Julia erzählte, wie sie zur Seite gesprungen und auf dem Stein gelandet war.
»Waren Sie bewusstlos?«
Julia nickte. Der Arzt erhob sich. »Sie haben eine Gehirnerschütterung, damit ist nicht zu spaßen. Ich werde alle zwei Stunden bei Ihnen vorbeischauen.«
Er nahm seine Tasche und verabschiedete sich.
Julia schlief wieder ein. Diesmal träumte sie von der heiligen Barbara, die einen Nixenschwanz hatte und ihr davonschwamm, verschwand und plötzlich wieder erschien. Dann tauchte sie ab, immer tiefer und tiefer. Auf einmal sah Julia ein helles Licht, das direkt auf sie zukam.
Der Arzt blendete ihr zuerst in das eine Auge, dann in das andere, versicherte, dass alles in Ordnung sei, und verschwand wieder.
Als sie das nächste Mal erwachte, bückte sich wieder eine Gestalt über sie. Der Arzt konnte es nicht sein, der hatte keine langen Haare. Und trug auch keinen Holzstiel mit sich herum. Die Gestalt zuckte zurück, als Julia sich aufsetzte.
»Entschuldigung. Wollte nur sehen, ob Sie okay sind.« Es war Maria mit einem Besen in der Hand.
Durch die Ritzen der Jalousie fielen Sonnenstrahlen. Es musste bereits Morgen sein.
»Danke, es geht mir gut.« Julia war etwas überrascht von der plötzlichen Fürsorge Marias.
»In einer halben Stunde würde ich hier gerne putzen«, sagte Maria und verschwand.
Julia schaute auf die Uhr. Es war bereits zehn.
Die Schritte kehrten zurück, es klopfte an der Zimmertür.
»Ja?«
»Muss Ihnen noch etwas ausrichten. Vom Arzt. Sie sollen heute Morgen in seine Praxis kommen.«
»Und wo ist die?«, wollte Julia fragen, doch Maria hatte das Zimmer bereits verlassen, die Tür zog sie schwungvoll hinter sich zu, sodass sie mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Julia hielt sich die Ohren zu. Doch es war zu spät.
Sie duschte und zog sich an. Beim Zähneputzen blickte sie kurz in den Spiegel und beschloss, keine Schminke aufzutragen, das hätte heute sowieso niemand bemerkt. Ihr Gesicht war aufgequollen und sah aus wie eine Kartoffel. Bevor sie in die Kantine ging, checkte sie noch schnell ihre Mails. Jan hatte nicht geantwortet.
Die Cantina Tschiervi war beinahe leer. Die zweite Schicht schlief, die erste war bereits seit Stunden im Tunnel. Hinter der Glasscheibe saßen zwei Arbeiter und rauchten. Julia hatte die beiden noch nie gesehen. Vielleicht waren es Arbeiter der dritten Schicht, der Wartungsschicht. Sie würden schon bald schlafen gehen.
Julia ließ einen Kaffee heraus und setzte sich an einen der leeren Tische. Als Maria vorbeikam, fragte sie, ob es noch Croissants gebe. Maria schüttelte den Kopf. Nach einer Weile kam sie mit einem Teller mit zwei Scheiben frischem, noch warmem Brot zurück und stellte ihn wortlos vor Julia hin.
Sie wurde nicht klug aus dieser Frau. Sie schien ein gutes Herz zu haben, wollte sich das aber nicht eingestehen. Julia hätte sie gerne besser kennengelernt.
Vor der Kantine saß ein Mann in Trainingshose auf einem Stuhl und hielt sein Gesicht in die Sonne. Am Fuß trug er einen Verband. Julia ging zu ihm hin. Er schaute sie an und verzog das Gesicht. »Des schaut net gut aus.«
»Sie machen aber auch nicht den Eindruck, als könnten Sie auf Berge steigen.«
»I bin der Max«, sagte er, gab ihr die Hand und deutete auf seinen Fuß. »Da is a Kettn draufgfalln. – Und Sie san die Frau, die die Marta wieder zum Laufen gebracht hat. Aber setzn’S Eana doch, es wär mir eine Ehre.« Er deutete auf den leeren Stuhl. Julia nahm das Angebot gerne an. Sie fühlte sich immer noch etwas schwach auf den Beinen.
»Sie sind aus Österreich?«
»Wie die meisten von uns.«
»Das hab ich gehört. Es sollen ganze Täler sein, die hier arbeiten.«
»Sie meinen das Tal der tausend Gummistiefel. – Is auch ein guter Beruf. Und verdienen tut man. Dafür müsst ma in Österreich gleich ein Studium habn.«
»Wie lange sind Sie jeweils hier?«
»Sieben Tage arbeitn, ein Tag frei – sieben Tage arbeitn, zehn Tage z’Haus.« Er holte eine Packung Zigaretten aus seiner Trainingshose und streckte sie ihr entgegen. »Mogst
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