Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
Chile.«
»Toll!« Er klang nicht sehr begeistert.
»Da bauen sie einen Abwassertunnel. So was gibt es nicht jeden Tag.«
»Gut.« Sandro verschränkte die Arme.
»Du gehst doch auch weg, wenn du hier fertig bist.«
»Das dauert noch etwas. Aber wenn das für dich eine Chance ist …«
»Ja, das ist es. Und Chile ist ein schönes Land!« Sie staunte selbst, wie begeistert sie klang.
»Gut, dann gehst du eben.« Er schaute auf den Boden.
Sie ging zu ihm hin, hielt ihre Hand an seine Wange. »Es tut mir leid.«
»Lass das!« Er packte sie am Unterarm und zog ihn weg. Dann verließ er das Zimmer.
Um vierzehn Uhr ging Julias Zug ab Repiano. Sie brauchte noch etwas Proviant für die Reise. Maria mochte sie nicht bitten. In der Nähe des Bären gab es einen Dorfladen. Der hatte bis halb zwölf geöffnet. Wenn sie sich beeilte, würde es gerade noch reichen.
Sie nahm die Abkürzung zwischen den Häusern hindurch, kam am Haus von Roberta vorbei. Sie sah den Jungen erst, als er aufschoss und die Katze davonrannte. Er musste auf der Veranda gesessen haben, die schwarze Katze auf dem Schoß. Seine Haare waren auffallend hell. Er stürzte ins Haus.
Was ist mit dem los?, fragte sich Julia. Dann kam ihr in den Sinn, wo sie solche Haare zum letzten Mal gesehen hatte. Vor ihrem Spind. Das war der Typ, der sie niedergeschlagen hatte.
Na warte, dachte Julia. Sie schaute sich um. Die Katze saß inzwischen in einer der Blumenkisten und leckte die Pfoten. Auf die Veranda konnte Julia nicht klettern, die war zu hoch. Sie rannte ums Haus herum, drückte die Türklinke. Die Tür war offen. Eine Treppe führte in den oberen Stock. Sie schlich hinauf. Die erste Tür war nur angelehnt und führte in ein Schlafzimmer. Es war leer. Die zweite Tür sah nach Badezimmer aus, ein Milchglasfenster war darin eingelassen. Die dritte war zu. Sie drückte die Klinke, es war abgeschlossen. Sie schlug gegen die Tür. »Aufmachen!« Doch nichts regte sich. »Jetzt mach schon auf, du Feigling!«
»Was machen Sie hier?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Julia drehte sich um. Vor ihr stand Robertas Tochter. Sie sah sie mit großen Augen an.
»Wem gehört dieses Zimmer?«, fragte Julia.
»Das gehört meinem Bruder, Gianni. Was wollen Sie von ihm?«
»Das möchte ich ihm selber sagen.«
»Aber Sie können doch nicht einfach …«
»Bitte! Es ist wichtig.«
Giannis Schwester klopfte an die Tür. »Gianni, ich bin’s, Luzia. Komm, mach bitte auf.«
»Die Frau soll weggehen«, hörte ihn Julia durch die Tür.
»Sie möchte mit dir reden.«
»Ich aber nicht mit ihr.«
»Du kommst jetzt raus. Bald gibt es Mittagessen. Ich habe Pizzoccheri gemacht, die magst du doch so gerne.«
Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Dann war es wieder still. Luzia öffnete die Tür. Auf dem Bett saß ein Junge, Julia konnte sein Alter schlecht schätzen. Seine Gesichtszüge wirkten eher kindlich, doch er hatte eine männliche Statur. Die Vorhänge waren zugezogen. Auf dem Nachttisch brannten ein paar Kerzen. Daneben stand leicht beleuchtet die heilige Barbara.
Julia ging auf die Statue zu. »Also du hast die heilige Barbara gestohlen!«
»Nicht anfassen«, fauchte sie der Junge an.
Julia wich einen Schritt zurück.
»Gianni, was hast du denn? Jetzt beruhig dich mal wieder.« Luzia setzte sich neben den Jungen und strich ihm über den Kopf. »Diese Frau hat dir doch nichts getan.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Julia, doch Luzia schien sie nicht zu hören, sie war mit Gianni beschäftigt.
»Sie soll rausgehen«, sagte er zu seiner Schwester. Seine Stimme klang weinerlich. Er begann zu schluchzen.
Julia verließ das Zimmer.
»Bitte warten Sie unten«, sagte Luzia. »Ich komme gleich nach.«
Julia ging die Treppe hinunter. Giannis Heulen verstummte.
In der Stube stand ein Specksteinofen. Darauf saß die schwarze Katze und schaute zu Julia herunter.
»Bitte setzen Sie sich. Wollen Sie einen Tee?«, fragte Luzia.
»Gerne. Es tut mir leid, dass ich einfach so in Ihr Haus eingedrungen bin.«
»Das ist schon okay. Gianni kann manchmal etwas seltsam sein. Aber was wollten Sie ihn eigentlich fragen?«
»Was ist mit Gianni?« Roberta stand im Flur, das kleine Kind auf dem Arm.
»Offenbar hat er diese Frau …« Luzia sah Julia fragend an.
»Er hat einen Zettel auf meinen Spind geklebt. Ich habe ihn dabei erwischt, und dann hat er mich in den Magen geboxt.«
»Gianni?« Roberta übergab ihrer Tochter das Kind. Es schaute Julia an, verzog das Gesicht,
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