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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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zerstörten Teile der Stadt in eintöniger, farbloser Großblockbauweise wiederaufzubauen. Obwohl Schmidts neuer Wohnort Stuttgart nur etwa 300 Kilometer von Jena entfernt lag, war es doch eine ganz andere Welt.
    Die amerikanischen und englischen Luftangriffe hatten auch einen Großteil Stuttgarts zerstört. Immerhin handelte es sich um ein Zentrum der deutschen Industrie, das dort seit der Erfindung von Gottlieb Daimlers »Automobil mit Verbrennungsmotor« entstanden war. Trotzdem hatte das westdeutsche Nachkriegswirtschaftswunder die hügelige, im Grünen gelegene Stadt in eine aufstrebende Wirtschaftsmetropole voller Baukräne und neuer Autos verwandelt. Überall war der große Aufbauwille zu spüren, der die Bundesrepublik bereits zur drittgrößten Exportnation der Welt hatte werden lassen.
    Nur einige Wochen nach ihrer Ankunft im Westen nahm Marlene an der Wahl zur Miss Germany teil. Angelockt hatte sie eine Anzeige in der örtlichen Zeitung, die der Gewinnerin ein Renault-Cabrio in Aussicht stellte. Nachdem sie den Wettbewerb im mondänen Kurort Baden-Baden gewonnen hatte, durfte sie nach Florida reisen, wo sie vor achtundvierzig
Konkurrentinnen aus der ganzen Welt zur ersten und bisher einzigen deutschen Miss Universum gekürt wurde.
    Das Time -Magazin konnte der Versuchung nicht widerstehen, danach gegen die Kommunisten zu sticheln, wie sie diese Frau nur hatten entkommen lassen können. »Selbst bei der gegenwärtigen Flüchtlingsflut hätte den ostdeutschen Grenzwächtern die einsachtundsiebzig Meter große, bildhübsche Marlene doch auffallen müssen … Der Westen hatte keine solche Schwierigkeiten.« 39
    Marlenes Triumph wurde in Farbe in der ganzen Welt verbreitet, da der Wettbewerb von Paramount Pictures organisiert und für das Fernsehen aufgezeichnet worden war. 40 Der berühmte Entertainer Johnny Carson hatte sich als Zeremonienmeister betätigt, und die Schauspielerin Jayne Meadows hatte ihm dabei assistiert. Zehntausende Ostdeutsche sahen danach ebenfalls diese Aufzeichnung, da ihnen die nach Westen gerichteten Antennen auf ihren Dächern auch den Empfang der westdeutschen Fernsehprogramme erlaubten. Sie schauten alle ganz genau hin.
    Marlene, die als Elektroingenieurin in einer Stuttgarter Firma für pneumatische Messgeräte etwas mehr als 800 DM im Monat verdiente, zeigte sich über den Ertrag ihres Miss-Universum-Gewinns begeistert. Dazu gehörten 5000 Dollar in bar, ein Nerzmantel im Wert von ebenfalls 5000 Dollar, ein Auftrittsvertrag über 10 000 Dollar und eine vollständige neue Garderobe. 41 Die Zeitungen meldeten, dass ihre Siegesfeier bis 5 Uhr morgens angedauert habe. Danach habe es ein »American-Style-Frühstück« mit Orangensaft, Schinkenspeck mit Eiern, Toast und Kaffee gegeben. »Ich bin ein bisschen müde, aber so glücklich«, ließ Marlene durch ihren Dolmetscher verlauten, einen Deutsch sprechenden Marineleutnant, der sie zu ihren Pressekonferenzen, Interviews und Fototerminen als ihr offizielles Sprachrohr begleitete.
    Die weltweite Aufmerksamkeit zwang Ulbrichts Propagandaapparat zu einer schnellen Reaktion. Der ostdeutsche Parteichef hatte in seinem Kampf gegen die Flüchtlingsflut eine dreigleisige Strategie entwickelt: erstens positive Propagandaberichte über die Tugenden des Sozialismus und die Fehler des Kapitalismus, zweitens verschärfte repressive Maßnahmen einschließlich der Bestrafung von Familienmitgliedern von Flüchtlingen wegen Mitwisserschaft oder Beihilfe und drittens Belohnungen für zurückkehrende Flüchtlinge in Form von Wohnungen und attraktiven Arbeitsstellen.
    Trotzdem konnte nichts davon die stetig steigende Welle stoppen. Dabei spielte auch das in der ostdeutschen Bevölkerung kursierende Gerücht eine Rolle, dass es bald keine Gelegenheit zur Flucht mehr geben werde.
    Was Marlene anging, warf die offizielle kommunistische Jugendzeitschrift Junge Welt den Amerikanern vor, sie hätten den Schönheitswettbewerb manipuliert, um die Aufmerksamkeit auf das ostdeutsche Flüchtlingsproblem zu lenken. 42 Sie höhnte, die westdeut-sche
Presse habe die Geschichte eines »Sowjetzonen-Aschenputtels« fabriziert, die der Goldene Westen vor dem halb verhungerten Kommunismus gerettet habe. Der Verfasser versuchte dann, den Spieß umzudrehen. Während die Ostdeutschen sie wegen ihrer Fähigkeiten als Ingenieurin als Produkt ihrer sozialistischen Erziehung schätzten, »zählen jetzt nur noch ihr Busen, ihr Hintern und ihre Hüften. Man kann sie nicht mehr ernst

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