Berlin - ein Heimatbuch
Angesprochene schießt einen vergifteten Blick ab, den ich großzügig übersehe.
»Der Wintergarten war quasi so etwas wie die Geburtsstätte des Varietés. Da sind die ganz Großen jener Zeit aufgetreten: Rastelli, der damals beste Jongleur der Welt zum Beispiel, oder die Sängerin Claire Waldoff. Sogar die erste Filmvorführung der Welt fand dort statt.«
Während meines kleinen Exkurses in die Varieté-Historie haben unsere beiden Frontscheiben-Akteure ihre Kurzdarbietung beendet. Ich kurble die Seitenscheibe runter und werfe den jungen Talenten mein Flohmarkt-Wechselgeld in den Hut. Kaum springt die Ampel auf Grün, drückt unser Lenkrad-Rambo abrupt aufs Gaspedal und düst wie ein Kamikazejäger in den Kreisverkehr des Großen Sterns. Gerne würde ich Karl ein paar kluge Sätze über Siegessäule und Goldelse mit auf den Weg geben, aber da wir nach kaum einem Wimpernschlag schon wieder aus dem Kreisel raus sind, mindestens ein geschocktes Hausmütterchen hinterlassend, deren Smart von unserem Raketenbenz kriminell geschnitten wurde, verzichte ich darauf und setze meinen Varieté-Vortrag fort.
»Mit Aufkommen des Fernsehens in den 50er-Jahren war das Varieté so gut wie tot, selbst in Berlin. Logisch: Als plötzlich jeder eine Glotze zu Hause hatte, saßen alle lieber gratis auf dem Sofa, statt sich draußen kostenpflichtig unterhalten zu lassen. Mal ganz abgesehen davon, dass der sündhaft teure Fernseher erst einmal abbezahlt werden musste. Aber Ende der 80er wendete sich das Blatt. Mit dem Berliner Wintergarten, dem Frankfurter Tigerpalast oder dem Stuttgarter Friedrichsbau entstanden überall in Deutschland neue Varieté-Häuser. Und das Publikum, vom heimischen Sesselpupsen zunehmend gelangweilt, strömte in Scharen dahin. Speziell Berlin entwickelte sich zu einem Eldorado der glitzernden Unterhaltungskunst.«
Karl ist von meinem Wissen offenbar beeindruckt und hält andächtig und untypisch die Klappe. Das nutze ich weidlich aus.
»In den Hackeschen Höfen entstand zum Beispiel kurz nach der Wende mit dem ›Chamäleon‹ eine zweite große und professionelle Berliner Varieté-Bühne. Initiator war eine internationale Artistentruppe namens Parody Paradise, der die Idee dazu in den Proberäumen des Deutschen Fernsehfunks kam. Sie bunkerten den Raum in den Hackeschen Höfen und spielten dort einige Jahre lang ziemlich schräge Shows. Aber entgegen aller Erwartungen gibt es den Laden heute immer noch und die Touristen pilgern in Scharen dorthin.« Kaum habe ich meinen Satz beendet, tritt unser wahnwitziger PS-Flüsterer in selbstmörderischer Manier auf die Bremse. »So, ihr Stubenfliegen. Bahnhof Zoo. Endstation.« Karl schraubt sich aus dem Fond und hat von der wilden verwegenen Hatz dicke Schwitzflecken unter den Armen; er stapelt seine mobile Bibliothek auf dem Dach des Taxis, zahlt unseren fliegenden Brandenburger und schafft es in allerletzter Sekunde, die Bücher vom Dach zu reißen, bevor Mr. Fast & Furious per Kickdown erneut auf Kundenfang geht.
In dem kurzen Moment, in dem die Droschke an mir vorbeizischt, blitzt noch einmal die Zuhälter-Sonnenbrille auf und erinnert mich schlagartig an unseren Ausflug auf das Tempelhofer Feld. Jetzt weiß ich endlich, woher ich diese unsägliche Brille kenne. Ich sollte mir unbedingt eine neue zulegen.
Berliner Showkreuzungen
Berlin ist eine der wenigen deutschen Städte, wo man eine staatlich anerkannte Ausbildung zum Artisten machen kann. In ihrer Freizeit probieren die Studenten zusammen mit Hobbyartisten und erfahrenen Gauklern das Erlernte an Berliner Straßenkreuzungen aus.
Beliebte Berliner Showkreuzungen
Mehringdamm / Ecke Gneisenaustraße
Mehringdamm / Ecke Tempelhofer Ufer
Stralauer Allee / Ecke Warschauer Straße
Waterloo-Ufer / Ecke Zossener Straße
D as Scheinbar Varieté – Berlins kleinste Bühne
Unter dem Motto: »Wir bauen uns unsere Bühne selbst«, entschieden im Jahr 1984 die beiden Schüler der Berliner Artistenschule »Etage«, Stefan Linne und Irmtraud Spiegel, ihr eigenes Varieté ins Leben zu rufen. Aus dieser Idee entstand wenig später Berlins kleinste Theaterbühne. Manche munkeln, es sei sogar Deutschlands kleinste Showbühne.
Im ruhigen Wohnbezirk Schöneberg direkt gegenüber einem Friedhof gelegen präsentiert das Scheinbar Varieté seitdem nahezu täglich auf seiner vier mal drei Meter großen Bühne Kleinkunst aller Art und Qualität. Zum Klassiker und Publikumsrenner entwickelte sich über die Jahre das
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