Berlin Gothic 3: Xavers Ende
spüren, wie er alles andere um sich herum vergaß, wie es ihm nur darum ging, all die Dinge, die er über dieses Reich gelernt hatte, an mich weiterzugeben. Aber … “ Max ließ die Arme auf die Decke fallen, „ … später dann habe ich gemerkt, dass ich das meiste von dem, was er gesagt hat, gar nicht wirklich verstanden habe.“
Till rutschte von seinem Stuhl herunter, legte sich auf das Fußende des Betts und streckte sich auf dem Rücken aus, so dass sein Blick auf die Zimmerdecke über ihm gerichtet war.
„Ich hab ihn trotzdem geliebt, vielleicht gerade deshalb, weil er anders war als andere Väter.“ Max‘ Stimme klang halblaut durch das Kinderzimmer, das nur indirekt von der Leuchte im Garten erhellt wurde. „Irgendwann hat er aufgehört, mir von seiner Arbeit, von den Dingen, die ihn beschäftigen, zu erzählen. Keine Ahnung wieso. Erst dachte ich, es könnte meine Schuld sein, ich könnte ihn enttäuscht haben und er würde sich nicht mehr dafür interessieren, mir alles über das Schreiben beizubringen, weil er die Hoffnung verloren hätte, ich könnte damit etwas anfangen.“
Max verschränkte die Arme hinter dem Kopf, sodass Till ihn - wenn er den Blick dorthin wandte - am anderen Ende des Betts liegen sehen konnte. „Aber dann habe ich gemerkt, dass es nicht meine Schuld war“, fuhr Max fort, „dass er immer gleich wütend wurde, dass er mich gar nicht mehr zu hören schien, wenn ich etwas sagte. Das war nicht nur eine Veränderung von dem, was er von mir hielt, das reichte tiefer, Till.“
Max presste das Kinn auf die Brust, um Till am Fußende des Betts einen Blick zuzuwerfen. „Das war eine Veränderung, bei der sich das Äußerliche, sein Gesicht, sein Körper zwar gleich blieben - alles andere aber sich verschob!“ Er richtete sich auf. „Merkst du nicht, wie er sich jetzt um dich kümmert? Warum meinst du, macht er das? Er hat etwas vor, Till, und wir haben keine Ahnung, was es ist.“ Ruckartig stieß Max die Füße in die Matratze und schob seinen Rücken an der Wand hoch. „Er ist vielleicht noch mein Vater, aber er ist kein Mensch mehr. Und ich werde mich von diesem Monster nicht zugrunde richten lassen!“
Till spürte, dass Max im Innersten längst eine Entscheidung getroffen hatte.
„Ich werde es tun, Till, ich werde es tun.“
Was tun?, dachte Till, aber er wagte es nicht, Max danach zu fragen. Stattdessen wanderte sein Blick wieder an die Decke. Seitdem Max zu sprechen angefangen hatte, war ihm, als würde jemand seine Kehle zuschnüren. Max war vielleicht geschwächt, übermüdet, betroffen - was auch immer. Was er sagte, war jedoch nicht von der Hand zu weisen. Till hatte den Vogelkampf gesehen, er hatte Bentheim lesen gehört, er hatte mitbekommen, wie Bentheim aus dem U-Bahn-Tunnel verschwunden war. Etwas war mit Max‘ Vater im Gange - etwas, das auch Max spürte, das sie sich nur nicht erklären konnten. Aber es war gefährlich - und es war für Max gefährlicher als für ihn, das spürte auch Till.
„Der Abend heute hat mir gereicht“, hörte er Max‘ Stimme murmeln. „Ich werde meinen Vater von der Bestie, die Besitz von ihm ergriffen hat, erlösen.“ Erschrocken wandte Till den Kopf und sah, dass Max‘ leuchtende Augen auf ihn gerichtet waren. „Ich werde es tun, Till - solange ich dazu noch nicht zu schwach bin. Ich werde ihn töten.“
Und er wirkte, als sei er geradezu durchstrahlt von dem Entschluss, den er gefasst hatte.
BERLIN GOTHIC 3
Zweiter Teil
1
Heute
„Nee!“
Die Frau ist bestimmt über sechzig, klein und sie hat eine Stimme, die klingt, als hätte sie viele Jahre lang täglich eine Menge Zigaretten geraucht.
„Das war nicht der Müllschlucker - der ist ja draußen, dort hinter ihnen auf dem Gang! Es war im Lastenaufzug, gleich bei mir in der Küche!“
Claire lässt sich gegen die Wand vor der Tür sinken. „Einen Lastenaufzug haben Sie hier?“ Sie lächelt. Sie mag die Alte.
„Den gibt’s sonst nicht in Plattenbauten, ich weiß. Aber wir hier haben einen - ursprünglich war der für das Essen gedacht, für die Rentner in den oberen Stockwerken. Das hat man dann nie wirklich so gemacht - doch der Aufzug war nun einmal drin.“ Die Frau grinst. „Wollen Sie ihn mal sehen?“
„Ginge das?“ Claire lächelt.
Sie steht noch immer auf dem Hausflur, den die Japanerin und ihre Freundinnen inzwischen über das Treppenhaus verlassen haben. Die Familie mit den Kindern wartet noch auf den Fahrstuhl.
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