Berlin Gothic 3: Xavers Ende
winselten, und den Gang, der zu dem Zwinger geführte hatte, geradeaus weiter lief, tiefer hinein in den Untergrund der Stadt.
Till folgte ihm, wie überflutet von den Gedanken und Gefühlen, die die Worte von Max‘ Vater in ihm ausgelöst hatten.
Kaum stellte er sich dem Fluss der Dinge nicht mehr entgegen, kaum SCHWAMM ER MIT IHM MIT, erschloss es sich ihm: Es war eine Illusion, ein Irrtum, ein Irrglauben, zu denken, dass man selbst entscheiden müsste. Das war der Fehler, der alles Übel, allen Kummer, alle Wirrnis in die Welt brachte. Man brauchte nur in sich zu lauschen - schon vollzog es sich in einem - mit einem - durch einen! Bentheim hatte recht - und er ließ ihn teilhaben an dieser großartigen, geradezu überwältigenden Erkenntnis: Es gab keine Freiheit - und das einzusehen war das Glück!
Es kam Till so vor, als würde er gemeinsam mit Max‘ Vater den Gang entlang fliegen.
BERLIN GOTHIC 3
Dritter Teil
1
Heute
„SIND SIE WAHNSINNIG?!“
Der Polizist hat ihre Kamera in der Hand.
Claire versucht, es sich nicht anmerken zu lassen - aber die ehrliche Wut und Empörung des kräftigen Beamten in der Kevlar-Uniform vor ihr schüchtern sie mächtig ein.
Sie haben sie förmlich aus dem Bad herausgezerrt.
„Machen Sie das auf eigene Kappe - oder für eine Redaktion?“ Der Beamte zieht die Schutzmaske vom Kopf, darunter kommen kurz geschnittene, graue Haare zum Vorschein.
„Auf eigene Kappe!“
Hat ja keinen Sinn, das Blatt mit hineinzuziehen. Dass sie sich unerlaubt Zugang zum Tatort verschafft hat, hat ihre Redakteurin schließlich nicht angeordnet. Klar, wenn die Bilder gut sind, würden sie sie nehmen …
Claire sieht, wie der Beamte einen Knopf an der Kamera betätigt und die abgespeicherten Bilder aufruft.
Scheiße! Will er die jetzt löschen, oder was?
„Was soll denn das“, Claires Gesicht verzieht sich, „auf den Aufnahmen ist doch garnichts zu sehen … “
„Sie hätten niemals“, die Stimme des Beamten ist wie eine Rasierklinge, „ niemals hier hereinkommen dürfen - “
„CHEF!“
Er hält inne, dreht sich um.
Im gleichen Moment hört sie es.
Ein Rumpeln als ob eine Ladung Schutt durch einen Baustellenschlauch gekippt würde.
„CHEF!!“
Der Beamte zuckt zusammen. „WAAS?“ Ohne Claire noch eines Blickes zu würdigen, schreitet er mit der Kamera in der Hand durch den Flur in die Richtung, aus der Ruf gekommen ist.
Und dann geht alles ganz schnell.
Claire sieht zu dem schlaksigen jungen Polizisten hoch, der unbeholfen neben ihr stehen geblieben ist. Kann der sie vielleicht einfach gehen lassen?
RATTATAT RATTATATATAT.
Claire erstarrt.
Sieht, wie sich die Augen des jungen Mannes neben ihr weiten.
Schüsse.
Das Blut steigt ihr zu Kopf. Sie hört es in den Ohren rauschen. Plötzlich scheint ihr Körper in Flammen zu stehen.
Nur noch gedämpft vernimmt Claire Rufe, Schreie, dann Brüllen aus den vorderen Zimmern der Wohnung.
Gleichzeitig wiederholt sich das Rumpeln, das eben schon einmal zu hören gewesen ist, verstärkt sich - es scheppert, ein Knall.
Claire glaubt zu spüren, wie ein Zittern durch das Hochhaus geht.
Dann sieht sie den jungen Mann vor ihr rennen - auch sie ist losgestürzt.
Raus hier!
Raus aus der Wohnung - raus aus dem Haus.
Aus den vorderen Zimmern der Wohnung hasten Menschen in den Flur. „Im Müllschlucker!“, hört sie neben sich, „diesmal sind sie im Müllschlucker!“ Claire dreht den Kopf wie in Zeitlupe zur Seite, sieht den aufgerissenen Mund einer Frau, die aus vollem Hals zu schreien scheint - die Claire aber nur leise hört.
‚Im Müllschlucker … ‘
Die Digi ist weg - aber sie hat noch die Leica -
Claire fühlt, wie sich ihre Hand um die kleine Kamera schließt - geistesgegenwärtig zieht sie den Sucher vors Auge.
Köpfe, Arme, Haare - eine niedrige Decke - ein Gesicht stößt gegen das Objektiv - schmerzverzerrt.
Was ist das?
Claire wischt über die Linse - die Finger kleben.
Es ist nur ein Tropfen Blut, aber er hat das ganze Objektiv verschmiert.
Sie schiebt sich durch den Eingang der Wohnung - im Hausflur drängen sich Leute - zugleich schlagen Geräusche aus dem Müllschlucker heraus, als würde eine Tierherde von einem Panzer darin niedergewalzt werden.
Darunter ein Klirren …
Nein, ein Klingeln!
Claires Ohr ist schweißnass, als sie das Handy dagegen drückt.
„Ja?“ Atemlos.
„Claire?“
„Ja?“
Es ist Frederik.
„Claire?“
Was ist mit ihm?
„Claire, sie haben
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