Berlin Gothic 3: Xavers Ende
geflüstert, versucht, sozusagen innerlich mit ihrem Vater zu sprechen, von der diffusen Hoffnung getragen, dass er sie vielleicht hören könnte und noch einmal zurückkommen würde. Sie hatte sich gesagt, dass sie auch auf Max einwirken würde und ihn davon abbringen, sich immer derartig heftig mit dem Vater zu streiten. Dass es ihrem Vater mit Sicherheit in seiner Familie gefallen würde, wenn er nur noch einmal zurückkäme. Dass sie sich Mühe geben würde, noch viel viel mehr Mühe als vorher. ‚Bitte, Papa, komm zurück.‘
Aber es hatte alles nichts genützt. Es war weiter still geblieben im Haus - und vielleicht sogar mit jedem weiteren Tag, der verstrich, noch stiller geworden. Er war weg. Er rief nicht an, schrieb keine Karte, ließ nichts ausrichten. War einfach nur weg.
Lisa wusste nicht, was passiert war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater sie einfach so vergessen hatte. Sie war sicher, dass etwas geschehen war, das es ihm unmöglich machte, sich bei ihnen zu melden. Er musste ja wissen, dass sie sich Sorgen machten. Er würde sie nicht einfach so hängen lassen. Vielleicht hatte ihn jemand entführt, vielleicht lag er in einem Keller, gebunden an Armen und Beinen, mit einem Knebel im Mund? Aber dann verwarf sie all diese Vorstellungen wieder. Wer sollte ihn denn entführen und warum?
Die Tage vergingen, es meldete sich niemand und Lisa lag auf ihrem Bett und konnte nicht weinen. Einmal war sie in das Schlafzimmer der Eltern geschlichen und hatte den Schrank aufgemacht. Dort hatten all die blauen Hemden gelegen, die ihr Vater immer getragen hatte. Sie hatte eines davon herausgenommen, auf das Bett gelegt und ihr Gesicht darin vergraben. Es hatte nach Waschmittel gerochen und Lisa hatte das Gefühl gehabt, ihrem Vater ein wenig näher zu sein als sonst. Aber dann hatte sie doch wieder nichts anderes zu tun gewusst, als das Hemd ganz sorgfältig zusammenzunehmen und zurück in den Schrank zu legen.
2
Das Rückgrat des Sommers war gebrochen, die mörderische Hitze, von 38, 39 Grad überwunden. Der Rest des Jahres würde ein langsamer Abstieg in den Berliner Winter sein, noch aber war es warm genug, um im Pool zu baden.
Lisa stieß sich vom Beckenrand ab und kraulte langsam die Längsseite hinunter. Ihre Mutter hatte vor einer guten Stunde Besuch bekommen, Max und Till waren mit den Rädern unterwegs. Lisa tauchte am Rand ab, rollte über und stieß sich mit den Füßen kräftig von der Mauer zurück in die entgegengesetzte Richtung. Das Wasser quirlte hinter ihren Ohren, unter ihren Armen, in ihrem Nacken unter dem Knoten, zu dem sie ihre Haare zusammengebunden hatte. Sie tauchte wieder auf, legte den Kopf zur Seite, holte tief Luft, schob das Gesicht zurück unter die Oberfläche, spürte, wie sie zügig vorankam.
Gleichzeitig irritierte sie etwas.
Geschmeidig rollte sie sich auf den Rücken, wollte eben kraulend den Rest der Bahn zurücklegen, als sie bemerkte, dass eine Gestalt neben dem Pool aufgetaucht war. Eine Gestalt, die von den Tropfen, die ihr noch über die Augen rannen, aufgelöst schien und ruhigen Schritts an das Becken herantrat. Abrupt ließ Lisa ihren Körper in eine senkrechte Position sinken und wischte sich mit beiden Händen Haare und Tropfen aus dem Gesicht.
„Ist es denn nicht zu kalt inzwischen?“, hörte sie die Gestalt sagen - und griff nach dem Beckenrand.
„Nein“ - ‚wer ist das?‘ - „ist noch okay.“
Sie wandte den Kopf dem Mann zu, der auf der anderen Seite des Beckens stehen geblieben war. Er trug einen hellen, leichten Anzug, der wie maßgeschneidert saß, war um einiges kleiner als ihr Vater und seine Züge wirkten seltsam lebendig, klar geschnitten und fein.
Er hockte sich an den Beckenrand und steckte eine Hand in das Wasser. „Hm“, hörte sie ihn sagen. „Schön.“ Er lächelte ihr zu.
‚Er trägt einen Ring‘, schoss es Lisa durch den Kopf, ‚aber nicht so einen wie Papa, einen Ring mit einem Stein.‘
„Sie sind Felix von Quitzow“, entfuhr es ihr, „Sie haben meine Mutter besucht.“
Von Quitzow lachte. „Ja, richtig.“
„Wo ist sie … meine Mutter, meine ich.“
„Sie muss noch ein paar Papiere durchsehen, die ich ihr mitgebracht habe.“
„Und Sie warten solange.“
Er nickte, zog ein weißes Taschentuch aus der Hose und trocknete seine Hand daran ab, ohne sich aus der Hocke zu erheben. „Ich glaube, wir haben uns noch nie getroffen, oder Lisa?“
Er schaute auf seine Hand, während er sich
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