Berlin Gothic 4: Der Versteckte Wille
Gesichter der Gäste. Und merkte, dass sie ihre Rede wieder aufgenommen hatte. Eine unendliche Erleichterung durchströmte sie. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, sie würde diese Rede zu Ende bringen und Betty keine Probleme bereiten! Und doch nagte an Lisa zugleich - während sie schon weiterredete - die bange Frage, wie lange sie sich wohl auf den Fluss ihrer Worte noch würde verlassen können. Denn schon hatten die Gedanken in ihrem Kopf eine ganz andere Richtung genommen als die Rede, die sie gleichsam nur äußerlich, mit dem Mund, noch formulierte.
War die Pointe, die sie sich überlegt hatte, wirklich gut genug? DAS war es, was Lisas sozusagen innere Gedanken bewegte, während sie äußerlich vollauf damit beschäftigt war, den Faden ihrer Rede weiterzuspinnen. Musste die Pointe nicht wesentlich raffinierter ausfallen, als sie sich das ausgedacht hatte? War es nicht einfach nur grenzenlos plump , wenn sie ihre Rede mit etwas begann , das wirkte wie ein Sich-Mokieren über Hennings Freundeskreis, und aufhörte mit so etwas wie dem Ausruf: Nein, nein, April APRIL , diese Menschen sind gar nicht so böse, wie sie mir vorgekommen waren, es sind liebe Jungs, und ihr könnt froh sein, dass einer von ihnen meine siebzehnjährige Schwester Betty heute heiratet.
ABER WAS genau war denn eine bessere Pointe? Ging es darum, noch zwei Wendungen mehr einzubauen? Sollte sie - statt gleich mit dem Positiven zu beginnen - die Schraube sozusagen noch mehr anziehen? So dass ihre Zuhörer denken würden: Ah nein , Donnerwetter, das, was ich für das Schlechte gehalten habe, die Arroganz dieser Leute, ist gar nicht das Schlechte, es ist das Gute : Hennings Freunde sind vielleicht überheblich - aber eben auch gebildet, geschmackvoll und witzig - das ist doch gut! Das Schlechte kommt erst noch!
Doch wollte Lisa das wirklich? Wollte sie, dass ihre Zuhörer es mit der Angst zu tun bekamen? Dass diese Hochzeitsgesellschaft, die so ausgelassen, unbeschwert, so hellrosa-blau gewirkt hatte, für einen Moment in einen Abgrund blickte, mit dem keiner für den heutigen Nachmittag gerechnet hatte? Wollte sie ihnen wirklich den Eindruck vermitteln, dass sie sie in diesen Abgrund hineinstoßen könnte - nur um dann eben doch noch mit einer weiteren Überraschung aufzuwarten: Die Jungs, von denen einer meine Schwester heute heiratet, haben zwar ihre Schattenseiten, jawohl! Aber auch das ist nur eine Oberfläche, noch nicht der wahre Kern. Der wirklich wahre Kern ist, dass sie EBEN DOCH die Guten sind. Sie haben zwar das Dunkle, Verruchte in sich - aber das macht doch nichts, denn im Kern sind sie gut … so dass ihre Zuhörer sich mit einem Stoßseufzer der Erleichterung zurücklehnen würden, gleichsam durchknistert von dem Schrecken, den Lisa ihnen eingejagt haben würde, und beschwingt davon, was für raffinierte, ja geradezu gefährliche Leute sie kannten. Sie würden aufstehen und zu ihr strömen, ihr die Hand schütteln und sie umarmen wollen, ihr sagen, wie wunderbar ihre Rede war, was für ein Erlebnis, ihr zuzuhören!
„ … aber dann begriff ich, dass das, was ich mir vorgenommen hatte - über diesen Freundeskreis zu sprechen - gar nicht wirklich zu dem Tag passen würde, an dem meine Schwester Betty heiratet. Und ich beschloss, dass ich nicht über Henning, Malte oder Quentin reden würde, sondern über sie, über Betty , die ich - Betty, ich hoffe, du entschuldigst, wenn ich das sage - vielleicht besser kenne, als jeder andere hier im Raum.“
Lisas Blick wanderte über die Köpfe der Gesellschaft. Man lächelte wieder, die schreckliche Bangigkeit, ob sie der Aufgabe, diese Rede zu halten, überhaupt gewachsen war - eine Bangigkeit, von der alle für einen Moment ergriffen gewesen zu sein schienen -, war verflogen. Lisa hatte zurück auf sicheres Terrain gefunden. Sie würde über Betty sprechen - da konnte nichts schief gehen.
„Ich habe keine anderen Worte für das, was ich für dich empfinde“, hörte sich Lisa sagen, „als dass ich dich liebe - und zwar nicht nur, weil du meine kleine Schwester bist, sondern weil ich niemanden kenne, der ein so bezauberndes Wesen hat wie du!“
Sie erhob ihr Glas. Das Klatschen begann.
Lisa sah, wie Betty an Hennings Seite aufstand und sich in ihrem Brautkleid an den Sitzen der Gäste vorbeidrängte, bis sie sie erreicht hatte. Die beiden Schwestern nahmen sich für einen Moment in den Arm.
Und im gleichen Augenblick wurde Lisa plötzlich klar, dass sie vorhin nicht
Weitere Kostenlose Bücher