Berlin Gothic 4: Der Versteckte Wille
versinkt.
Eine Zelle der Geborgenheit.
„Entschuldigen Sie - kommen Sie … sind Sie nicht von dort hinten gekommen?“
Claires Blick ist noch verschleiert, als sie die Augen wieder aufschlägt. Sie lässt Frederik nicht los. Ein älterer Mann ist bei ihnen stehen geblieben, deutet in die Richtung, aus der sie gekommen sind. „Was … ich meine, was ist denn da los?“
Claire sieht zu Frederik auf. Der macht Anstalten, weiter zu gehen. „Sorry, Mann - keine Ahnung.“
Claires Arm bleibt um Frederiks Taille geschlungen, als sie ihren Weg fortsetzen.
„Hat er die Schüsse gehört?“ Claire sieht unschlüssig zu Frederik.
Er drückt sie an sich, antwortet nicht. Claire verlangsamt ihre Schritte, dreht sich so, dass sie noch einmal stehen bleiben müssen, wenn sie sich nicht voneinander lösen wollen. „Was hat der Mann denn gemeint?“
Sie sehen über den Platz, an dessen Ende der Passant gerade zwischen den Häusern verschwindet. Nur vereinzelt brennen noch Lichter in den Fassaden, in den Giebeln, die schräg in den Nachthimmel ragen, an den Laternen, die wie angeknickt im Pflaster stecken.
Claire fühlt, wie sich Frederiks Brustkasten neben ihr hebt und senkt. Eine Bö wirbelt Staub und Sand auf, die über den Asphalt streichen. Claire kneift die Augen zusammen, um sie vor den Körnchen zu schützen.
Sie können nicht zu ihr nach Hause. Sie können nicht zu Frederik nach Hause. Sie drückt sich enger an den Mann, der sie im Arm hält. Es geht eine Ruhe von ihm aus, die Claire gierig in sich aufsaugt.
Sie atmet aus.
Eine hell erleuchtete S-Bahn rattert in den hochgelegten Bahnhof rechts neben ihr. Dahinter ragen ein paar heruntergekommene Hochhäuser in den schwarzblauen Stadthimmel. Eine wohlvertraute Silhouette, hinter der sich - wie eine Krönung - der Fernsehturm mit seiner Kugel erhebt.
Claire spürt, wie ihr Mund trocken wird.
Es ist, als ob ihre Netzhaut es zu registrieren beginnt, bevor ihr Gehirn dafür aufnahmefähig ist.
Eine Wolke … eine hellgraue Wolke, die sich zwischen den Umrissen der Hochhäuser zu erheben beginnt.
Der Druck von Frederiks Arm um ihren Körper verstärkt sich. Claire hört ein dumpfes Grollen ansteigen - eine Sirene anspringen, die sich auf der anderen Seite der S-Bahntrasse befinden muss.
Sie atmet aus …
… und wieder ein.
Gedämpft dringt der Signalton, der die Abfahrt der S-Bahn ankündigt, zu ihnen herüber - die Bahn setzt sich in Bewegung.
Und die Staubwolke steigt weiter auf, erleuchtet von den Laternen, die unter ihr die Straßen erhellen.
Claire beobachtet die Rücklichter der S-Bahn, die mit quietschenden Rädern ihre Trasse durchläuft.
Es ist eins der Hochhäuser auf der anderen Seite der Trasse. Es scheint sich zu bewegen und Claire begreift nicht, wie das sein kann. Dann beginnt das Gebäude langsam in sich zusammenzurutschen.
Claire zieht den Kopf zwischen ihre Schultern, Frederiks Arme schließen sich um sie. In das dumpfe Grollen hinein schießen helle Prasselgeräusche, zwei weitere Sirenen springen an. Etwas knallt, scheint zu platzen - ein zischendes Geräusch, als ob aus einem riesigen Schlauch etwas gespritzt würde.
Gleichzeitig quillt die Staubwolke jetzt auch unter der S-Bahn-Trasse hindurch auf den Platz.
Direkt auf sie zu.
Claires Blick zuckt zurück zu dem Hochhaus.
Es ist nicht mehr da.
Steil, scharf und klar ragen die Fassaden der übrigen Gebäude in den Nachthimmel - während die Staubwolke Stockwerk um Stockwerk einhüllt.
2
Zwei Jahre vorher
„Das ist doch nicht so schlimm. Auf der Hochzeit hat doch alles bestens geklappt - und immerhin war Max derjenige, der sich um die Feier gekümmert hat, oder?“ Till nippte an der Styroportasse, die er in der Hand hielt.
„Okay, aber ich habe kaum mehr verstanden, was er gesagt hat! Entweder er hat geschrien - oder genuschelt … “ Nachdenklich lehnte sich Lisa in ihren Stuhl zurück und ließ die Passanten an sich vorüberziehen.
Sie saßen auf Metallstühlen vor einem Coffeeshop am Hackeschen Markt. Auf dem schmalen Bürgersteig vor ihnen liefen die Fußgänger vorbei. Die meisten hatten ihre Regenmäntel aufgeknöpft, manch einer trug nur noch Pullover. Es war erstaunlich gutes Wetter für März, nur vereinzelte Wolken sausten über den ansonsten tiefblauen Himmel.
„Er hat gestern sicherlich einiges getrunken und wer weiß, was sonst noch alles gemacht“, ging Till auf sie ein, „aber als ich mit Max gesprochen habe, hat er auf mich doch einen gut
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