Berlin Wolfsburg (German Edition)
vorstellte: mit kugelrundem Bauch, Glatze und dröhnender
Stimme. Ein Kegelverein hielt seine Sitzung ab, Lachen brandete auf; jemand
setzte die Musikbox in Gang, und kurz darauf erklang ein Helene-Fischer-Song.
Das Bierangebot war hervorragend. Sie nahmen an einem Fenstertisch Platz.
Annegret Kuhl starrte einen Moment auf die Straße und wandte den Blick dann zum
Himmel, wo sich immer deutlicher etwas zusammenbraute, bevor sie ein Glas Wein
bei der Kellnerin bestellte und Johanna ansah. Die entschied sich für ein Bier.
»Die Fälle sind in jeder Hinsicht ungewöhnlich: umfassend,
aufreibend, zutiefst erschreckend«, begann Kuhl schließlich leise zu erzählen.
»Das stellen wir in diesen Tagen nicht zum ersten Mal fest. Ich kann nicht
ausschließen, dass ich überreagiere – aus der schlichten Befürchtung heraus,
Dinge zu übersehen und falsch zu deuten.«
Sie hat ein schlechtes Gewissen, dachte Johanna.
»Vielleicht sehe ich Gespenster, vielleicht bin ich über Gebühr
misstrauisch geworden«, fuhr Kuhl fort. »Beides wäre fatal.«
Johanna nickte. Ihre Getränke wurden serviert.
»Was ich gestern Abend gemacht habe, ist einmalig in meiner
bisherigen Karriere als Staatsanwältin«, fuhr Kuhl noch leiser fort. »Und
bleibt es hoffentlich auch. Aus einem nagenden Gefühl der Unruhe heraus bin ich
nach Dienstschluss einer Kollegin gefolgt, deren Name häufig in den
Ermittlungsakten auftaucht. Nicht übermäßig häufig, das kann man nicht
behaupten, aber doch mehrfach …«
Johanna nahm einen kräftigen Schluck Bier. Sie war von Kuhls Chuzpe
beeindruckt. »Und? Haben Sie etwas entdeckt?«
Annegret Kuhl nickte in Richtung Fenster. »Sie hat ihren Sohn hier
untergebracht.«
»Sie meinen Staatsanwältin …«
»Ja, Hannelore Maurer. Wir arbeiten seit Jahren zusammen. Ich hätte
niemals gedacht, dass ich ihr je misstrauisch begegnen würde, und sollte ich
falsch liegen …« Kuhl winkte ab. »Wie dem auch sei. Ich bin ihr gestern Abend
gefolgt. Sie ist zunächst zum Einkaufen gefahren und dann hierher. Ich bin mir
ziemlich albern vorgekommen, als ich da draußen im Auto wartete, andererseits
bedrängte mich die Situation aber auch nicht so unangenehm, dass ich die Aktion
abgebrochen hätte und kurzerhand nach Hause gefahren wäre, um mich dort über
mein merkwürdiges Verhalten zu wundern und zumindest stumm Abbitte zu leisten.
Ich parkte ein Stück die Straße hinunter und behielt das Gebäude im Blick. Als
Hannelore nach einer guten halben Stunde aus der Tür trat und zu ihrem Wagen
ging, ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen.«
Johannas Puls beschleunigte sich.
»Jemand löste sich aus dem Schatten des Gebäudes – eine schmale,
dunkel gekleidete Gestalt, von der ich nicht sagen kann, ob es sich um einen
Mann oder eine Frau handelte, zumal die Dämmerung längst eingesetzt hatte. Die
Gestalt hielt nach Hannelore Ausschau – dessen jedenfalls bin ich mir ganz
sicher. Als Hannelore um die Ecke bog, verschwand die Gestalt hinterm Haus. Ich
habe noch einen Moment gewartet – und siehe da: Kurz darauf fuhr ein
Motorroller an mir vorbei und folgte meiner Kollegin.«
»Sind Sie sicher, dass es sich um die gleiche Person handelte?«,
fragte Johanna dazwischen.
»Ja, durchaus. Dunkle Kleidung, schmale Gestalt, nur der Helm war
dazugekommen.«
»Kennzeichen?«
Kuhl schüttelte bedauernd den Kopf. »Konnte ich nicht erkennen. Es
handelte sich jedoch um einen großen Roller – keiner von den kleinen
Stadtflitzern. Ich bin hinterhergefahren, aber das Kennzeichen war nicht zu
entziffern.«
»Ist diesbezüglich nachgeholfen worden?«
»Würde ich nicht ausschließen. Ich bin sicher, dass der Roller
Hannelore folgte, die sich auf den Weg zurück in die Braunschweiger Innenstadt
gemacht hatte – ich nahm an, dass sie nach Hause fuhr. Auf der Stadtautobahn
habe ich dann beide verloren … Ich bin nicht geübt im Verfolgungsfahren.«
Ich auch nicht, dachte Johanna. Im Fernsehen sieht das immer sehr
einfach und höchst spaßig aus.
»Sicherheitshalber bin ich noch zu ihr gefahren. Sie kam ungefähr
zehn Minuten nach mir, hatte also wahrscheinlich unterwegs noch etwas zu
erledigen. Vom Roller – keine Spur.«
Johanna lehnte sich zurück und drehte ihr Glas zwischen den Händen.
»Wir haben heute eine ganze Weile zusammengearbeitet«, fuhr Kuhl
fort. »Meine Kollegin benahm sich wie immer, und ich bin unschlüssig, wie ich
weiter verfahren soll. Vielleicht habe ich die Situation völlig
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