Berlin Wolfsburg (German Edition)
gehen, könnte mir aber vorstellen, dass diese Ansicht
in den oberen Etagen –«
»Ja, schon gut, beruhige dich! Ich hab’s kapiert«, brummte Tony.
»Ich melde mich, sobald ich etwas habe. Aber einen Kaffee darf ich noch
trinken, oder?«
»Auch zwei.«
»Zu gütig.«
Anschließend informierte Johanna Annegret Kuhl und Luca Mareni per
Mail über die neuesten Hinweise. Pause, dachte sie dann. Wird Zeit,
abzuschalten und die Familienkontakte etwas zu pflegen.
Sie fuhr ins Altenheim und saß eine halbe Stunde am Bett ihrer
Großmutter. Käthe musterte sie aus fragenden Augen und behauptete ein ums
andere Mal, sie nicht zu kennen. Das war nur schwer auszuhalten. Johanna hielt
ihre Hand und mühte sich ein Lächeln ab. Hauptsache, sie fragte nicht nach Peter,
einem Bruder, den es nie gegeben hatte.
Gertrud Krass öffnete erst nach dem dritten Klingeln. Sie war
ungehalten über die Störung, davon zeugte der strenge Blick. Als sie ihre
Tochter erkannte, machte sie große Augen. »Du? Was machst du in Wolfsburg?«
»Verbrecher jagen.«
»Ach so. Na dann biste ja genau richtig bei mir … Willst du
reinkommen?«
Allein diese Frage. Johanna seufzte unterdrückt. Alles wie immer.
Herzlichkeit ist nicht ihr zweiter Vorname, dachte sie, als sie Gertrud in die
Küche folgte, aber wie lange will ich darüber noch lamentieren? Ihre Mutter
kochte Kaffee und meckerte über dies und jenes, das ihren eintönigen Alltag
noch eintöniger machte. Und was ist mit meinem Alltag, überlegte Johanna
plötzlich. Durchdrungen von Mord und Totschlag, von Gier und Grausamkeit,
Macht, Intrigen und Lügen, immer auf der Suche nach einem, der zur Verantwortung
gezogen werden konnte und musste. Manchmal gelang das, aber bei genauerer
Betrachtung war ihr Alltag genauso eintönig. Und nach dem Job? Rückzug,
Naturnähe, Einsamkeit. Stille.
Johanna lehnte dankend ab, als Gertrud ihr einen zweiten Kaffee anbot,
und brach auf, bevor der Trübsinn die Oberhand gewinnen konnte. Sie schlenderte
durch die Fußgängerzone und gönnte sich ein Eis beim Italiener: Stracciatella
und After Eight. Die Rathausuhr schlug zwölf.
Sie machte sich auf den Weg zurück ins Hotel, als Tonys SMS eintraf: »Mail mit Bericht unterwegs. Zieh dich
warm an.«
Sarah Mohn war nach dem frühen Unfalltod ihrer Eltern bei ihren
Großeltern in Berlin-Reinickendorf aufgewachsen. Ihr Großvater Manfred Mohn war
Dachdecker gewesen und verunglückte bei Arbeiten auf dem Dach des eigenen
Schuppens. Sarah war damals zehn Jahre alt gewesen und seinerzeit zum ersten
Mal von der Polizei befragt worden. Im Bekannten- und Familienkreis hatte
Manfred Mohn als herrischer und aufbrausender Zeitgenosse gegolten, dem häufiger
mal die Hand ausgerutscht war und der seine Frau regelmäßig verprügelt hatte,
wie eine Bekannte unverblümt zu Protokoll gegeben hatte. Was den Sturz vom Dach
bewirkt hatte, konnte nicht geklärt werden.
Einige Jahre später verstarb eine Nachbarin der Mohns, Monika
Berthan, auf ungewöhnliche Weise. Der Ehemann war mit den drei Kindern ins
Schwimmbad gefahren. Als die vier zurückkehrten, entdeckte der Mann seine Frau
nach längerem Suchen im Keller. Mehrere Wespenstiche hatten ihr, die
hochallergisch auf Wespenstiche reagierte, den Garaus gemacht. Die Polizei war
hinzugezogen worden, weil Monika Berthans Allergie bekannt gewesen war und noch
niemals zuvor Wespen im Keller bemerkt worden waren. Darüber hinaus war die
Kellertür eigentümlicherweise verschlossen gewesen, was sich niemand erklären
konnte. Weitere Recherchen, in deren Verlauf die Nachbarn und auch Sarah
befragt worden waren, ergaben, dass das Jugendamt sich bereits mehrfach mit den
Erziehungsmethoden der verstorbenen Frau beschäftigt hatte – ohne langfristigen
Erfolg. Sie galt als cholerische Schlägerin. Ihre Spezialität sollte das
Züchtigen mit feinsten Ruten gewesen sein. Die Umstände ihres Todes konnten
nicht eindeutig geklärt werden.
Jahre später hatte es dann Mark Bäumer erwischt. Auch er war alles
andere als beliebt gewesen, weder in der Firma noch privat, und die Umstände
seines Todes boten ebenfalls durchaus Spielraum für Mutmaßungen und
Spekulationen, ohne zu einer Spur zu führen.
Johanna beschwor sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, aber
dass in Sarah Mohns Nähe auffallend häufig Menschen verunglückten, die aufgrund
ihrer Persönlichkeit, Charakterschwächen oder Missetaten niemand so recht
vermisste, würde sie ohne Weiteres behaupten können. Hinzu kam
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