Berndorf 07 - Trotzkis Narr
nicht länger, er steht auf und applaudiert mit erhobenen Händen, andere folgen ihm, bis eine Wellenbewegung durch den Saal geht … Was werden die Zeitungen morgen titeln?, fragt sich Karen Andermatt. Stehende Ovationen für Staatsanwältin Gnadenlos? Sie wirft einen Blick auf die Uhr. Die Staatsanwältin hat völlig frei gesprochen, aber auf die Sekunde genau nicht länger als vierzig Minuten. Irgendeiner – Tucholsky vermutlich – hat einmal geschrieben, vierzig Minuten seien exakt die Grenze, die ein guter Redner einhalten muss.
Aber sie, die freie Schriftstellerin Karen Andermatt – was könnte sie über diesen Abend schreiben? Sie könnte das Netz der blauen Äderchen auf der Knollennase des Herrn mit dem Yachtclub-Blazer beschreiben. Ja doch. Oder die sorgfältig gelegten, mit einem Blaustich getönten weißen Haare der beiden Damen, von denen die eine zu stark parfümiert ist. Sie könnte festhalten, dass die Staatsanwältin bei den Jungmanagern weniger Bürokratie fordert und bei den Weißhaarigen mehr Respekt vor den Weißhaarigen … Wozu? Da ist doch das eine so rasend peinlich wie das andere. Unvermittelt überfällt sie das Gefühl, sie sei von all diesen Menschen durch eine unsichtbare Scheibe Panzerglas getrennt, wie die Fische im Aquarium von den Besuchern. Oder ist sie am Ende selbst die Zoobesucherin, mit einem eiligen und gelangweilten Blick auf all die Fische, die in den Schaukästen mit ihren Flossen fächeln und ihre Kreise ziehen?
An den Vortrag hat sich eine Aussprache angeschlossen, die von Triglaw mit verbindlicher Routine geleitet wird, und richtig meldet sich auch Knollennase zu Wort …
»… mit Freude und großer Genugtuung habe ich gehört«, sagt er mit brüchiger Stimme, »was Sie über den Respekt vor den weißen Haaren gesagt haben. Das hat man lange nicht mehr gehört, und ich hätte nicht geglaubt, dass ich es noch einmal zu hören bekomme. Aber etwas bedrückt mich. Was Sie heute im Fernsehen über diesen Doppelmörder gesagt haben, das habe ich fast nicht glauben wollen, da habe ich mir gedacht, das darf doch nicht wahr sein, dass ein solcher Mensch noch immer frei herumläuft und vielleicht dabei ist, den nächsten Mord zu begehen. Früher, als wir noch den Schutzmann an der Ecke hatten, wäre das wohl nicht möglich gewesen, und ich wollte Sie fragen, ob wir nicht einfach mehr Polizisten brauchen und dafür vielleicht weniger Gleichstellungsbeauftragte und was es an solchen Posten sonst noch gibt?« Er verbeugt sich und setzt sich wieder.
Die Staatsanwältin nickt leicht, als bedanke sie sich oder als Zeichen, dass sie die Frage verstanden habe. »Sie sind mir um eines voraus«, sagt sie dann, »ich habe nämlich noch keine Zeit gehabt, mich selbst im Fernsehen anzuschauen. Richtig ist, dass wir heute Mittag eine Pressekonferenz zum Fall Harlass gegeben haben. Ich weiß auch sehr gut, was ich da gesagt habe, aber ich weiß leider nicht, was die Journalisten daraus zusammengeschnitten haben … Doch zu Ihrer Frage. Dieser Mann, nach dem wir suchen, ist in der Tat außerordentlich gefährlich. Aber! Es ist nur eine Frage weniger Stunden, vielleicht noch von ein oder zwei Tagen, bis wir ihn aufgespürt haben. Wir werden ihn auch dann aufspüren, wenn er Helfer haben sollte, die ihm Unterschlupf bieten. Und erst dann werden wir auch wissen, ob wir es mit einem Einzeltäter oder einer womöglich noch gefährlicheren kriminellen Vereinigung zu tun haben. Wie gesagt, wir werden ihn bekommen, keine Sorge! Und zu Ihrer Frage: Gerade, weil dieser Mann so gefährlich ist, wäre uns mit dem Schutzmann an der Ecke nicht geholfen, im Gegenteil, wir müssten fürchten, einen weiteren Beamten zu verlieren. Zum Glück verfügen wir aber über hochqualifizierte, bestens trainierte Einsatzkommandos, die sind hier gefordert …!«
Ein Schleierschwanz, denkt Karen. Ein Aquarium mit einem einzelnen, riesengroßen Schleierschwanz, der mit seinem Mund blubb macht, blubb und blubb!
D en Havelländischen Kurier hat sich Berndorf so zurechtgefaltet, dass er den Bericht über den Berliner Doppelmörder lesen und sich gleichzeitig dem Lammbraten widmen kann. Der Lammbraten ist zart, auch die Bohnen sind nicht faserig, während man den Bericht über die Berliner Morde etwas mehr auf den Punkt hätte bringen können. Das Bild des mutmaßlichen Mörders Lutz Harlass? Er will sich darüber kein Urteil bilden. Auf einem Fahndungsfoto der Polizei sieht jeder Mensch aus wie von der Polizei
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