Berndorf 07 - Trotzkis Narr
fotografiert. Das Foto des Polizisten Jonas Regulski? Ein holzgeschnitztes Gesicht, man kann ihn wiedererkennen, ja doch, Dienst ist Dienst, und Menschenfreundlichkeit ist Menschenfreundlichkeit, viel Freizeit wird Jonas Regulski nicht gehabt haben.
Aber was hat man diesem Menschen aufs Revers geklebt? Irgendeinen Abkömmling von einem Eisernen Kreuz, die Kreuzbalken breit auslaufend? Wer vergibt solche Orden und warum? Er überfliegt den Artikel und findet schließlich so etwas wie einen Nachruf auf den Ermordeten und darin den Halbsatz:
… besondere Verdienste hat sich Hauptkommissar Jonas Regulski bei der Ausbildung der Freiwilligen Polizeireserve Berlin erworben …
Freiwillige Polizeireserve Berlin? So etwas gibt es nicht, denkt Berndorf, aber dann kommt ihm eine Erinnerung an die Sechziger Jahre, irgendetwas war da … Später! Er wendet sich wieder dem Lammbraten zu und wirft auch den einen oder anderen Blick auf den Fernseher, über dessen Bildschirm die Champions League flimmert. Zum Abschluss bestellt er sich noch einen Espresso, gibt der Kellnerin ein Lob für die Küche des »Alten Zieten« in Auftrag und akzeptiert auch den Wacholderschnaps, der auf Rechnung des Hauses geht. Er will sich noch ein wenig die Füße vertreten, sagt er dann, wenn es später wird, wie kommt er dann in sein Zimmer? Er muss nur um den Gasthof herum zum Seiteneingang gehen, erklärt die Kellnerin, den kann er mit dem Zimmerschlüssel aufschließen.
Er kippt den Wacholderschnaps, steht auf, zieht seinen Mantel über und wünscht allseits einen schönen Abend. Allseits: Das sind drei oder vier Einheimische, die missmutig die Champions League verfolgen, es sieht wohl nicht gut aus für die deutschen Clubs, von den notorischen Bayern mal abgesehen. Ein Vertreter hockt vor seinem Notebook und studiert seine Aufträge, ein älteres Ehepaar sitzt bei einer Flasche Wein.
Draußen empfängt ihn Nebel, dem erhitzten Gesicht tut die feuchte Kühle gut. Ein paar Schritte will er noch gehen, so hat er gesagt, und etwas anderes als das Gehen bleibt ihm auch gar nicht übrig, denn das Auto hat er Tamar überlassen, damit sie noch am Abend nach Berlin zurückkommt. Er schlägt nicht die Richtung zu Bauernende Sieben ein, sondern geht in Richtung des Schlosses, dessen mächtiges Walmdach im Nebel vor ihm auftaucht, als habe es das ganze Dorf unter seine Fittiche genommen. Ob die Dorfbewohner sich in früheren Zeiten wirklich behütet gefühlt haben oder nicht vielmehr grausam gedeckelt und unterdrückt und der Fron ausgeliefert? Berndorf hat so seine Zweifel, aber er geht weiter, er ist nicht der Heimatgeschichte wegen hier, die kann er woanders nachlesen. Weiter oben im Wald, so hat er es auf der im »Alten Zieten« ausgehängten Wanderkarte gesehen, müsste ein Weg auf der Anhöhe in Richtung Osten abzweigen, so dass er irgendwann oberhalb der Bauernende Sieben wieder aus dem Wald herausfinden sollte.
Der Weg steigt an, aber der Nebel lichtet sich nicht. Das Dorf liegt bereits hinter ihm, plötzlich ragt eine dunkle Wand vor ihm auf, und die kleine Straße schlängelt sich in den Wald. Er zögert ein wenig, wie lange will er noch in diese Richtung gehen? Irgendetwas ist in seinem Mantel und surrt – hat er hier oben Funkkontakt? Er holt das Handy heraus und meldet sich, überraschend nah ist eine fröhliche und warme Stimme, und doch kommt sie von weit her …
»Wo bist du, und was tust du da?«, fragt Barbara Stein.
»Im Wald bin ich, und ich guck gerade, wie es weitergeht. Und du?«
»Ich ruf an, weil wir nachher ein Meeting haben, eine Diskussion über – ach, worüber man heutzutage so diskutiert, wie eine menschliche, eine menschenfreundliche Gesellschaft überleben kann, ohne von der Finanzspekulation ruiniert und ausgeblutet zu werden … Es wird lange dauern. Wie geht es deiner Klientin?«
»Ich hoffe, gut … Aber wenn du schon fragst – mir geht was anderes durch den Kopf. Was genau ist oder war die Freiwillige Polizeireserve Berlin?«
Durch den Hörer kommt Gelächter. »Du tauchst in Abgründe, mein Lieber! In die tiefsten Abgründe der Frontstadt Berlin. Die Freiwillige Polizeireserve Berlin wurde gegründet als Antwort auf die Betriebskampfgruppen der SED , das heißt, das sollten gar keine Hilfssheriffs sein, wie man sie dann genannt hat, sondern eine richtige Bürgerkriegstruppe, irgendwas zwischen drei- und sechstausend Bierbäuche stark. Nach der Wende war die Truppe noch überflüssiger als davor, aber der
Weitere Kostenlose Bücher