Berndorf 07 - Trotzkis Narr
Automat akzeptiert auch ihr Ticket, sie fahren die Ausfahrt hoch, hinauf in den Berliner Abend, niemand hält sie auf, nirgends ein Polizist mit umgehängter Maschinenpistole, fern jaulen Martinshörner.
»Welches Krankenhaus?« Das Auto hat ein Navigationsgerät, wahrscheinlich wäre es das Einfachste, dort einen Suchbefehl einzugeben.
»Stadtautobahn«, flüstert es vom Beifahrersitz. »Nach Westen … Crammenow, mit Ce, Bauernende sieben …«
Karen zuckt die Achseln, dann startet sie das Navigationsgerät und gibt – mit der linken Hand steuernd – die Adresse ein. Das Navigationsgerät errechnet 87 Kilometer und knapp anderthalb Stunden Fahrzeit. Einen Augenblick lang denkt Karen, sie könnte sich eine neue Wette vorschlagen: ob sie eher in diesem Kaff sein wird oder ihr Beifahrer tot.
»Soll ich Sie nicht in eine Notaufnahme bringen?«, fragt sie dann.
Der Mann hebt die Hand mit der Pistole und macht eine Bewegung, die nach vorne zeigt. »Crammenow«, flüstert er.
N irgends blinkt blaues Licht, keine Straßensperren, keine Umleitungen, nicht einmal ein Stau. Die sanft-tyrannische Frauenstimme des Navigationsgeräts hat Karen inzwischen auf die Bundesstraße 5 dirigiert, sie haben das Stadtgebiet verlassen, es ist dunkel, immer wieder treiben Nebelfelder über die Fahrbahn und werfen das Scheinwerferlicht zurück, auf den Hinweisschildern stehen Ortsnamen wie Nauen, Wustermark, Schloss Ribbeck …
Sie fährt nicht zu schnell, aber nicht wegen des Nebels, denn bei jeder Unebenheit zuckt der Mann neben ihr zusammen oder flucht leise. Er ist also noch immer bei Bewusstsein, aber er muss Schmerzen haben, sie überlegt, ob es sinnvoll ist, mit ihm zu reden – vielleicht lenkt es ihn ab, vielleicht will er auch einfach in Ruhe gelassen werden.
»Wollen wir ein bisschen reden?«, fragt sie aufs Geradewohl. »Oder soll ich das Radio anmachen?«
»Radio«, flüstert die Stimme. »Verkehrsfunk!«
Sie schaltet das Radio ein, viel zu laut bricht Barockmusik über sie herein, »… eiser …«, flüstert der Mann neben ihr, offenbar tut ihm der Krach weh, dann kann sie den Ton herunterfahren. Sie sucht einen der Sender, die Verkehrsmeldungen bringen, sie bekommt aber nur Disco-Geplätscher herein, dann einen Kultursender mit hurtig redenden Menschen, schließlich einige Gitarrenakkorde, die so klingen, dass Karen weiter zuhören will, eine Männerstimme erhebt sich …
Who is this that rides so late
Between the woods and the garden gate …
Draußen wird die Sicht schlechter, sie schaltet die Nebelleuchte ein, sirrend zieht eine schwere Limousine an ihr vorbei, die Ballade bricht ab, an ihre Stelle drängt sich die tyrannische Stimme und befiehlt:
»Nehmen Sie die Ausfahrt und ordnen Sie sich danach links ein …«
Sie setzt den Blinker, im Radio klingen wieder die Gitarrenakkorde auf, um sofort erneut unterbrochen zu werden:
»Nach der Ausfahrt ordnen Sie sich links ein …«
Gehorsam verlässt Karen die Bundesstraße und biegt links ab, sie wirft einen Blick auf das Display, noch 18 Kilometer bis zum Ziel, der Sänger darf weitersingen, sie weiß jetzt, was sie da hört.
Oh Father, oh Father, I must go away,
The Oak King sings, I must obey …
Der letzte Akkord verklingt, eine neue Stimme meldet sich, sie klingt munter und unverdrossen, »das Lied ist aus, das Kind ist tot«, sagt die muntere Stimme, »aber hier ist Wanda Kuhlebrock auf Radio Berlin Fünf Sechsundneunzig, und wir alle sind noch am Leben, das will ich mal hoffen, neuerdings versteht sich das in Berlin nicht mehr ganz von selbst. Was Sie gerade gehört haben, das haben Sie natürlich erkannt, es ist der gute alte schreckliche Erlkönig von Altmeister Goethe, diesmal als The Oak Tree King übersetzt und gesungen von Josh Ritter, und wenn es Ihnen nicht in Mark und Bein gegangen ist, sind Sie selbst schuld … Vor dem nächsten Titel eine gute Nachricht für alle Autofahrer, im Augenblick keine gravierenden Behinderungen, aufkommender Nebel im westlichen Havelland, seien Sie also bitte besonders vorsichtig, sonst gibt es im Polizeibericht nichts Neues, na ja, im Kongresszentrum Spreeufer hat es eine Schießerei gegeben, angeblich hat ein Schriftsteller das Feuer auf einen Polizeibeamten eröffnet, da ist die Literatur mal nicht wie eine Axt unter die Leute gefahren, sondern wie ein Schießeisen, aber der Polizist soll nur leicht verletzt sein, und der Schriftsteller sitzt jetzt erst einmal auf Nummer Sicher …«
»Bitte«, flüstert
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